Danke, Helmut!

Blicke zurück mit Staunen: Vor fünfzehn Jahren begann die DDR aufzuhören – und ihre Einwohner fingen an, ratloser, neugieriger, aber auch ängstlich zu werden. Alles wurde anders. Aufregender, unsicherer, schöner. Ein taz.mag über die Errungenschaften eines neuen Lebens, elegantere Schuhe, Heimatgefühle und Utopien von einem Dritten Weg

VON ANJA MAIER

Als Günter Schabowski fertig war, wischte ich mit dem Finger einen Klecks Babybrei vom Aschenbecherrand und ging in die Küche, um mir noch ein Glas Rotwein zu holen. Direkt vor meiner Haustür fiel die Mauer, und ich glaubte nicht daran.

Stattdessen brachte ich am Morgen des 10. November 1989 in herbstlicher Dunkelheit meine Tochter in die Kinderkrippe und fuhr anschließend quer durch die Stadt zur Uni. Da war außer mir und ein paar ganz Dämlichen niemand. Alle anderen tanzten in Kreuzberg auf den Tischen, nur wir hatten nicht glauben können, dass auf Schabowskis Worte hin tatsächlich die Grenze geöffnet würde.

Vielleicht hatten wir sogar bezweifelt, dass es hinter der Mauer, die da solange wir denken konnten stand, tatsächlich ein Kreuzberg gab. Ich etwa hatte nach Schabowskis Pressekonferenz erwartet, dass zuerst noch dieses oder jenes Plenum tagen und irgendwann ein Grenzsicherung-der-Deutschen-Demokratischen-Republik-Fünfjahresplan verabschiedet würde, in dessen Folge – in, sagen wir, zwei Jahren – wir DDR-Bürger ein Visum beantragen konnten. Das Fehlen jeden Vertrauens in den Zusammenhang zwischen Worten und Taten der DDR-Führung mag das Ergebnis von 24 Jahren Ostsozialisation gewesen sein. Oder der Tatsache, dass ich zu dieser Zeit etwas ganz und gar Anachronistisches studierte in einem Land, das den Zusammenhang zwischen Konsum und Verkauf getrost vernachlässigen konnte: Werbung.

Oder dass ich tatsächlich andere Sorgen hatte in diesem Herbst. Drei Wochen vor dem Mauerfall hatte ich mich kurzentschlossen scheiden lassen, achtzig Ostmark hatte der Verwaltungsakt gekostet, und zwischen Einreichung und Gerichtstermin hatten zwei Wochen gelegen. Ich war eine ketterauchende, rotweingetränkte Frau in der Krise mit einem ein Jahr alten Kind, und ich wartete gerade darauf, dass alles wieder gut wird.

Was genau? Ich hatte keinen Plan. Aus meiner Sicht kam am 9. November zur persönlichen lediglich nichts als auch noch politische Unsicherheit. Dass dies Politische das Private unmittelbar beeinflussen würde, ahnte ich nicht.

Wochenlang, seit Anfang Oktober, war in meiner Straße, der letzten vor der Mauer zum westlichen Wedding, Militär stationiert gewesen. Lastwagen mit Männern in Uniform, Schäferhunde, Waffen. Zum ersten Mal in meinem Leben sah ich Schutzhelme und Schilde nicht im Westfernsehen, sondern direkt von meinem Wohnungsfenster aus. Ich hatte Angst, ich hatte kein Telefon, ich hatte ein Kind, und ich schob jeden Abend die Kohlenkiste vor die Wohnungstür.

Wenn ich nachts ausging, musste ich meine Tochter immer mitnehmen. Den 7. Oktober etwa, den vierzigsten Republikgeburtstag, feierten wir bei einem Maler um die Ecke. Jeder hatte schwarz-rot-gelbes Essen mitgebracht – das Emblem fehlte. Fehlfarben dröhnten durchs Atelier, ich fühlte mich unglaublich cool und subversiv. Gegen Mitternacht kamen Leute von der nahen Schönhauser Allee und berichteten von Festnahmen. Die stummen Wächter vor meinem Wohnungsfenster hatten ihre Aufgabe gefunden, und mir schwante, dass dies hier ausnahmsweise nicht die übliche Ostberliner Kunstperformance war, wo die Genossen der Deutschen Volkspolizei den Ausweis schwarz gekleideter Ausreisewilliger kontrollieren und wieder gehen. Sondern dass diese Tage und Wochen etwas bedeuten könnten. Möglicherweise auch etwas Schlimmes.

Jedenfalls war das folgende Jahr wundervoll. Die ganze Welt schaute auf die Ostdeutschen. Sie waren von der Lachnummer in Stonewashed-Jeans zu Revolutionären geworden. Und erfreulicherweise galt ich jedem Westler, obschon ich im Herbst 89 nur Babyflaschen aus Jenaer Glas gewärmt hatte, ungefragt als eine von ihnen. Ich bekam langsam das Gefühl, tatsächlich ein unverzichtbarer Teil der friedlichen Revolution gewesen zu sein.

In den folgenden Monaten wurde unter uns der so genannte Dritte Weg diskutiert. Er sah vor, dass wir Ostler einen eigenen Staat gründen, in den das Westkapital freudig investiert, ohne mitbestimmen zu dürfen. Eine Volksabstimmung würde in diesem Zauberland die nächste jagen, wir würden freie Schulen gründen, nach Italien reisen und könnten uns alles kaufen, was wir wollen, vor allem Bücher, Platten und endlich mal schöne Schuhe.

Man könnte meinen, wir hätten bei sämtlichen Staatsbürgerkundestunden, FDJ-Lehrjahren und Marxismus-Leninismus-Seminaren gefehlt, so naiv war es, den Dritten Weg überhaupt zu erwägen. Denn während neue Parteien, Interessenvertretungen und Zeitungen gegründet wurden, sondierte längst das Kapital die Konkurrenz jenseits der Elbe und befand sie für angenehm leicht. Die ersten volkseigenen Betriebe wurden geschlossen, das Wort Joint Venture wurde zum Sedativum für Ostdeutsche. Das Kapital tat, was es tun musste, gesetzmäßig und nicht mal bös gemeint.

Von meiner Mutter, der Politökonomin, bekam ich den guten Rat, mein Studium fahren zu lassen und mich für den festen Job bei einer Westberliner Zeitung zu entscheiden: Alleinerziehend im Kapitalismus – du wirst bald zu spüren bekommen, was das bedeutet. Ich tat, wie mir geheißen, und bekam zu spüren, dass im Grunde alles besser wurde. Ich bekam mehr Kindergeld, die Kitakosten wurden von achtzehn Ostmark auf akzeptable fünfzig Westmark angehoben, und ich erhielt eine Steuerklasse, die mich gegenüber Kinderlosen privilegierte. Und als mir die Kittelschürzenpädagogik in der Kita meiner Tochter nicht mehr passte, meldete ich sie einfach in einer besseren an – ein Vorgang, an den zu Ostzeiten nicht zu denken gewesen wäre. Endlich kaufte ich mir schöne Schuhe und tanzte in ihnen mit einem Mann, der neu und unbekannt war und beim Küssen nach Westzahncreme schmeckte. Er schenkte mir meine erste Nirvana-Platte und sträubte sich lange, aber vergeblich dagegen, sich in eine Ostfrau mit Kind verliebt zu haben, statt wie geplant „nach Amiland“ zu gehen.

Was Deutungshoheit meint, lernte ich bei meiner Arbeit schnell. Ich hatte mit Ost- und Westkollegen zu tun. Mit ersteren soff ich die Nächte durch, Letztere drängten mich, doch bitte korrekt „KollegInnen“ zu sagen. Sie hatten Häuser im Wendland oder lebten in der Kreuzberger WG meiner Träume, wo sie auf Hausplena die anstehende revolutionäre 1.-Mai-Taktik besprachen. Ich lernte eine Frau kennen, die mir erklärte, ihr elfjähriger Sohn sei durch jahrelanges Demonstrieren nahezu immun gegen Tränengas. Einen Mann, der mich zu einer Sekte mitnahm, die die freie Liebe praktiziert. Eine Kollegin bot mir an, den unterhaltssäumigen Vater meiner Tochter mit ihren Mitfrauen zu verprügeln – ich müsse ihr nur seine Adresse geben.

Das waren die frühen Neunziger. Im Gegenzug wurde ich stets gefragt, ob ich tatsächlich Russisch könne, was die Stasi mir denn angetan habe und ob ich jemanden kenne, der seine Laube verkaufen wolle.

Ich begann mich schleunigst anzupassen. Versuchte nun, weniger zu berlinern, schwieg bei unendlich vielen Themen, zu denen ich viele Fragen gehabt hätte, besorgte meiner Tochter einen Westkinderwagen und erwog, nach Kreuzberg zu ziehen. Stattdessen kaufte ich mir dann noch schönere Schuhe und heiratete in ihnen den Zahnpastamann. Unsere Ostler-Westler-Streits gipfelten meist in der küchenpsychologischen Vorhaltung, ich suchte vergeblich nach gesellschaftlichem Halt. Typisch Ostlerin eben.

Inzwischen – in der schöngerechneten Arbeitslosenstatistik wurde die Viermillionenmarke geknackt – hatte es sich herumgesprochen, dass die deutsche Einheit kostet, sehr viel kostet. Gespräche mit der neuen bayerischen Verwandtschaft verliefen zusehends unerfreulicher, Wörter wie Rentenkasse und Undank und Erben fielen – die Helden von Leipzig und Dresden reduzierten sich in der westdeutschen Wahrnehmung wieder auf das, was sie schon vor 89 waren: arme Verwandtschaft.

Erschwerend kam hinzu, dass ihre revolutionäre Vergangenheit manche Ostler nicht abhielt, sich wie die Pensionsberechtigten einer gesellschaftlichen Bewegung aufzuführen. Die sozialen Netzwerke wurden zu Beginn des neuen Jahrhunderts durchlässiger, in Deutschland wurden Ausländer überfallen, in New York kündete die islamistische Terrorbewegung von ihrem globalen Gestaltungswillen.

Und die Ostler? Noch immer forderten manche, dass alles so wird, wie es ihnen vor mehr als zehn Jahren ein übergewichtiger Herr versprochen hatte, nachdem sie ihm in Sprechchören seinen Namen entgegengerufen hatten. Aus manchen Revolutionären waren Kostgänger geworden, die sich standhaft weigerten, endlich mal vernünftig Englisch zu lernen, eine Steuererklärung auszufüllen oder zu realisieren, dass ein unglaublich geiler Herbst nicht auf ewig garantiert, Respekt entgegengebracht zu bekommen.

Auf der anderen Seite war da auch keiner, der das ernsthaft von ihnen forderte. Die Parteien hielten sich noch einige, ganz wenige Quotenostler. Zu entscheiden hatten sie nichts, nützlich waren sie allemal: für Lob oder Häme, Zugewandtheit oder Besserwisserei, Wahlkampf oder einen auflagenstarken Spiegel-Titel. Ostler hingegen, die Erfolg hatten, wurden als Selbstverständlichkeit hingenommen.

Als im vorigen Sommer erstmals laut ausgesprochen wurde, dass der Aufbau Ost seit dem Fall der Mauer 1,2 Billionen Euro gekostet hatte und nahtlos daran anschließend die Weiterzahlung der Aufbauhilfe gefordert wurde, war das Maß voll. Wie bei einem Schulversager wurden Elterngespräche mit den Ministerpräsidenten geführt, gemahnt und bilanziert. In Zeiten von Hartz IV kann sozialer Statusverlust eben nicht mehr nur die arbeitslose Verfahrenstechnikerin in Schwerin treffen, die seit fünfzehn Jahren von einer ABM zum nächsten Bewerbungsseminar weitergereicht wird. Sondern auch den Mann bei Opel Rüsselsheim, die Verkäuferin bei Karstadt in Berlin. Da wird schon mal geguckt, wo die ganze Kohle hin ist.

Seit nun im Osten jeder Pflasterstein nachgerechnet wird, Zeitungsfotos mit „Altstadt von Wernigerode: Kupferdachrinnen und vergoldete Wasserspeier“ betextet werden, fällt auf, wie wenig Zugewandtheit seit der Wende gewachsen ist, wie wenig Ostkenntnis es in diesem Land, auch in den Medien, gibt, wie viele Vorurteile zu nützlich sind, als dass man sie prüfte. Ostlerinnen wie ich werden mit leicht ungeduldigem Unterton gefragt: Was ist bloß los mit euch, wird denn das nie was?

Ich mache den Fehler, den viele machen: breche das Private ins Gesellschaftliche hoch. Ich jammere nicht, antworte ich dann. Es wäre uncool, die bad news erneut zu verbreiten: dass im Osten fast jeder Fünfte Erwerbsfähige ohne Job ist – und dass das nie im Leben eine Frage der Herkunft sein kann.

Auch mir sollte nichts dazwischenkommen, denke ich. Krankheit etwa, Schulden. Oder Arbeitslosigkeit, vor der ich mich heute mehr fürchte als damals vor 15, auch noch vor fünf Jahren.

Verhält es sich so, weil oder obwohl ich aus dem Osten bin? Oder weil ich nächstes Jahr vierzig werde? Ist Ostlerin sein ein politischer Standpunkt? Nun, es ist ein Stück Vergangenheit, das wohl vor allem. Und ein biografischer Glücksfall, damals jung und dabei gewesen zu sein. Dabei. Und bei vielen anderen Dingen, die davor und danach kamen, eben auch.

Nur einmal dachte ich: Danke, Helmut. Vor sechs Jahren am New Yorker Flughafen. Dass ich dort landen würde, hätte ich in diesem kalten Herbst vor anderthalb Jahrzehnten nicht einmal zu träumen gewagt.

ANJA MAIER, 39, taz-Schwerpunktredakteurin, lebt mit Mann, zwei Kindern und einem sehr großen Schuhschrank im Berliner Umland.