Hin zum Einzelnen

Er ist geboren am 13. August und steuerte in der DDR auf eine sorgenfreie Zukunft als Kader zu. Dann fiel die Mauer. Wie fällt Jens Biskys Bilanz aus, fünfzehn Jahre danach?

VON JAN FEDDERSEN

Was Jens Bisky zu erzählen hat, lohnt die Lektüre. Es steht in seinem Buch „Geboren am 13. August“. Das ist Bisky tatsächlich, genau fünf Jahre nach dem Beginn des Mauerbaus in der DDR. Der Untertitel gibt den Ton an, in dem seine Auskunft über gut 24 Jahre Leben in der Arbeiter-und-Bauern-Republik gehalten ist: „Der Sozialismus und ich.“ Lakonisch, persönlich, bar aller pompösen Rede. Der Sohn des heutigen PDS-Vorsitzenden Lothar Bisky und ältere Bruder des fast schon berühmten Malers Norbert Bisky arbeitet als Feuilletonredakteur der Süddeutschen Zeitung in Berlin.

Befragt werden sollte er bei unserem Treffen eigentlich nur darüber, wie er den Westen sieht und was er vom Günter-Grass-Diktum hält, dem zufolge die Wiedervereinigung mindestens fragwürdig ist, denn die deutsche Teilung sei doch als Strafe für Auschwitz zu verstehen und diese sei noch längst nicht abgesessen. Bisky meint darauf lapidar, schon historisch stimme das nicht, denn Auschwitz zu ahnden sei keineswegs die erste Absicht der Alliierten gewesen, zweitens aber sei die Aussage seltsam, habe doch offenbar nur der eine Teil, die DDR, die Teilung als Strafe verstehen müssen.

Weitere zwanzig Minuten später sind sich West und Ost, Frager und Befragter, in vielerlei Hinsicht einig. Dass man auf Wartereien (im Supermarkt, bei Behörden) extrem genervt reagiere und die Willkür von Nichtdienstleistungsgesellschaften verabscheue; dass man von Weltbeglückungsideen verschont bleiben möchte; dass man die deutsche Normalität ohne ideologische Aufwallungen genieße; dass einem ein Leben ohne politische Beweis- und Bekenntniszwänge erholsam vorkomme. Das Mittagessen ist vorbei, die Zeit war knapp. Schön, dass die Verabredung klappte. Ost und West, West und Ost: eine Redeweise, eine rhetorische Figur, kaum oder nichts mehr.

Es blieben dennoch: Gefühle zu wägen. Die nächsten Fragen folgten per Mail mit der Bitte um Erläuterung. Hat Jens Bisky, Kind der DDR-Intelligenzija und, logisch, im Geiste einer zu erbauenden Welt des Besseren aufgewachsen, vielleicht diffuse, heimatliche Empfindungen, die im weitesten Sinne mit einem DDR-Gefühl verwoben sind?

Der Autor bejaht. „Heimatliche Empfindungen hängen für mich an kleinsten Wahrnehmungen: Gerüchen (etwa von Kohlenheizung), Geschmack, den bekannten Rissen und Sprüngen im Straßenbelag, noch nicht abgetragenen oder angepinselten Häuserwänden. Es gibt ja Orte, an denen nahezu alles so aussieht, als wäre die Zeit stehen geblieben: etwa in der Panoramabar im Hotel Neptun in Warnemünde oder im einstigen ND-Gebäude in Berlin. Das wirkt auf mich höchst befremdend, wie inszeniert. Ansonsten ist Heimat ein Zustand geworden, den man bestenfalls ironisch zitieren kann: in Sprüchen, Losungen, Versen und Titeln von einst. Aber Heimat im Sinne eines unbedingten Rückzugsortes, eines Kraftquells kenne ich nicht. Das ist ja die DDR auch nicht gewesen.“

Ihm selbst war – aus seiner Sicht bis zum Abschied von der DDR ausgesprochen erfreulich – ein Kaderweg vorgezeichnet. Als „FDJ-Agitator“, wie es im Buch heißt, stand er doch ein für das sozialistische Gute. Spürt er wenigstens ab und an Sehnsucht nach der Einfachheit großer politischer Erzählungen?

Bisky wird grundsätzlich: „Einfache Erzählungen besitzen großen ästhetischen Reiz. Zu erzählen, was gewesen ist, was werden könnte und worin etwas wie Sinn liegt, gehört zu den normalen Bedürfnissen und ist zumindest eines, das ich auch habe. Heilsgeschichtliche Erzählungen aber, und mit solchen bin ich aufgewachsen, erzeugen Druck, Schwere, Anspannung. Darauf reagiere ich allergisch. An das Ende der großen Erzählungen habe ich nie recht glauben können. Aber der Fokus, mein Interesse hat sich verschoben: weg von Großgebilden und deren Schicksalen, hin zu Erzählungen von Einzelnen, hin zum Familienroman, dem Desillusionierungsroman usw. Da existieren ja unübertroffene Muster. Die große Erzählung vom allein selig machenden Wachstum plus der vom persönlichen Erfolg im ständigen Vorwärtsschreiten behauptet sich ja unangefochten und erscheint mir heute ähnlich irrig und gewaltsam wie die vom unaufhaltsamen Fortschritt.“

Bisky, der exzellente, weil filigrane Schreiber, ist nun durch sein Buch auch in der öffentlichen Wahrnehmung ein Wendegewinner. Ist das Gefühl von Freiheit (und Wahlmöglichkeit) an beruflichen Erfolg geknüpft?

Biskys Antwort: „Selbstverständlich ist das Gefühl der Freiheit abhängig von der persönlichen Lage. Nach meinen Lesungen höre ich immer wieder, dass Arbeitslose keine Freiheit besitzen, dass nur, wer im Wohlstand lebt, angenehm lebt. Das stimmt mich nicht allein deswegen skeptisch, weil meine Staatsbürgerkundelehrer so gesprochen haben. Individuelle Rechte, wie das auf unabhängige Justiz, freie Meinungsäußerung, Schutz vor willkürlicher Verhaftung oder Enteignung – Rechte, die seit 1789 auf der Tagesordnung stehen –, hat auch der Sozialhilfeempfänger. ‚Soziale Sicherheit‘ ohne bürgerliche Freiheiten gab es in der DDR. Man sollte wenigstens daran erinnern, dass in dieser behüteten Behaglichkeit ‚soziale Sicherheit‘ etwas Bedrohliches, Kontrolliertes, Einengendes lag. Freiheit ist ein Recht auf Unabhängigkeit und Entscheidung, aber keineswegs ein Zustand ohne Einschränkungen und Zwänge. Man könnte sogar sagen, dass der beruflich Erfolgreiche stärker in einen Apparat eingebunden ist als der weniger Integrierte, dass er hundert kleinen Zwängen unterliegt.“

Allen Ost-West-Vermischungen zum Trotz: Erkennt Bisky im Alltag manchmal „ostische“ Haltungen wieder?

Seine Antwort würden vermutlich auch viele Wessis unterschreiben: „Es fällt mir immer schwerer, Menschen sofort als ‚Ossis‘ zu erkennen. Meine große Überraschung – im Buch ist sie angedeutet – war ja, wie ‚ostdeutsch‘ viele Westdeutsche durch den Alltag gehen. In den vergangenen fünfzehn Jahren hat sich das alles verschoben. Unterschiede zwischen Milieus – Akademiker, Nichtakademiker, jung, alt, Kleinstadt, Großstadt – fallen mir heute stärker auf als die zwischen Ost und West.“

Jens Bisky erzählte zwei Tage zuvor en passent, seit der Wende reise er viel und gern; das hat er wohl mit vielen gemein, die früher DDR-Bürger waren. Die Welt angucken, neugierig, hungrig nach Eindrücken und Farben und Stimmen und Bildern. Haben sich, fifteen years after, ästhetische Vorlieben geändert: Ist der Musikgeschmack westlicher geworden – oder ostvertrauter?

Er antwortet: „Mein Musikgeschmack ist viel westlicher geworden wie überhaupt mein Geschmack, verbunden aber mit großer Abneigung gegen alles Aufgesetzte. Und aufgesetzt wirken viele Retroinszenierungen Ost allemal auf mich.“

Bei einer Lesung mokierte sich ein Zuhörer über das Schwulsein Biskys, atmosphärisch aufgreifend, dass ja auch der zweite Bisky-Sohn, der Maler Norbert, kein Fall für die sozialistische Musterfamilie gewesen sei. Na – so war das wohl zu deuten –, das konnte ja auch nichts werden. Hat er eigentlich in Ronald Schernikaus Ende der Achtziger verfasstem Buch „Die Tage in L.“ die DDR wiedererkannt? In der Geschichte vom Schwulen, der in der DDR nicht dem Bild vom Schwulen entsprechen und dennoch seine Homosexualität nicht abspalten musste? Oder war es nur die Fantasie eines in die DDR rübergemachten BRD-Bürgers, der im realen Sozialismus eine würdigere Realität erkannte? „Ja“, erwidert Bisky, „das Buch ist eine Westfantasie, aber eine ungeheuer genaue, da ja auch Abweichungen der Wirklichkeit vom Traum protokolliert werden. Und eben dadurch habe ich die DDR wiedererkennen können, im Traum vom einfachen, gerechten, geerdeten Leben.“

Jens Bisky liest aus seinem Buch „Geboren am 13. August. Der Sozialismus und ich“ (Rowohlt Berlin, 260 Seiten, 17,90 Euro) am 11. November in Papenburg (Volkshochschule in der Villa Dieckhaus), am 18. November in Erfurt (Audimax), am 19. November in Sömmerda (Saal der Städtischen Musikschule), am 23. November in Cottbus (Heron Buchhaus) sowie am 1. Dezember in Wusterhausen (Stadtbibliothek) JAN FEDDERSEN, 47, taz.mag-Redakteur, lehnte 1989 die Wiedervereinigung zunächst ab – was ihm heute rätselhaft erscheint