George W. Bush, American Pop Idol

Es sollte der stolze Sommer der modernen Geschichte werden, der Tag, an dem die Jugend Amerika zurückerobert. Tatsächlich war es nur eine Fata Morgana – es ist schließlich Herbst. Bitte einsteigen und festhalten, es folgt eine Achterbahnfahrt durch die Wahltage in Amerika. Unter anderem mit der OSZE-Wahlbeobachterin Rita Süssmuth im unklimatisierten Lincoln-Dienstwagen

AUS BALTIMORE, WASHINGTON UND VIRGINIA HENNING KOBER

Der erste Looping ist ein schriller Schauder. Halloween-Nacht vergangener Sonntag. Auf New Yorks lebendigstem Platz, dem Union Square springen zwei Engel, Skateboards an den Füßen und weiße Flügel auf dem Rücken, über die Treppen. Gegen den Sound der Stadt schreit sich einer die Angst aus dem Kopf: „Bush macht aus unserem Land eine Diktatur. Es ist die gleiche Situation wie 1933 in Deutschland.“ Es stehen knapp hundert Augen um ihn. So unrecht der Vergleich klingt, so wahr ist: Hier in New York kocht wenige Tage vor der Wahl eine Stimmung der Angst, und ohne Zweifel macht Bush oder Kerry einen größeren Unterschied als Schröder oder Merkel.

Am nächsten Morgen flimmert NBC: William Rehnquist, höchster Richter am Supreme Court, ist ernsthafter an Krebs erkrankt als zunächst angenommen. Der nächste Präsident ernennt drei oder vier der acht Richter neu, auf Lebenszeit. Wählt er Jüngere, entscheiden sie durch Jahrzehnte über grundsätzliche Bürgerrechte. Sie haben die Macht, das freie Land in einen neokonservativen Staat zu wandeln. Doch an diesem Montagmorgen, als ich von New York nach Washington reise, scheint das eine ferne Realität. Alles deutet auf John F. Kerry. 20 Millionen junge Wähler sollen registriert sein. MTV blendet einen riesigen Button „Vote Tomorrow“ ins Programm, das zeigt: „The Real World“. Zwei hübsche Männer küssen sich minutenlang. Überall Plakate, P. Diddy, Mary J. Blige, Leonardo DiCaprio in T-Shirts mit „Vote or Die!“-Druck. CNN hat „The Youth Vote“ entdeckt und berichtet euphorisch über die repolitisierte Jugendbewegung, groß und entschlossen wie zuletzt in den Siebzigern.

Wer kann, lässt sich in einem Swing State für die Wahl registrieren, in Ohio allein aus New York 150.000. Auch das konstante Patt in den Meinungsumfragen erklärt sich leicht aus dem offenen Geheimnis, dass die Institute keine Handys anrufen. Größtes Thema jetzt: Zählen all diese Stimmen auch? Unruhe um die neuen elektronischen Wahlmaschinen. Acht Prozent aller Wähler stimmen an Geräten der „Diebold Inc.“ ab. Deren Vorstandsvorsitzender Wally O’Dell war 2000 Vorsitzender der „Ohio Bush for President“-Vereinigung. Im Internet Anleitungen, wie sich die Software hacken lässt.

Rita Süssmuth lächelt

Meine Expertin für alle Fragen des Wahlsystems ist ein bekanntes Gesicht. Im Erdgeschoss-Büro der OSZE im Washingtoner Stadtteil Georgetown sitzt Rita Süssmuth. Sie lächelt, trägt rosa Polo unter der braunen Lederjacke. „Dem Gerät würde ich genauso viel zutrauen wie dem Wahlzettel. Die Frage ist, wie mache ich die Software dem Wähler transparent?“ Zudem schwierig: Gewählt wird in den USA in den unterschiedlichsten Variationen. Jedes County hat eine eigene Wahlgesetzgebung. Mehrere Staaten haben eine Beobachtung durch die OSZE untersagt. „Wir müssen sehr genau auf unsere Glaubwürdigkeit als unabhängige Institution achten“, sagt Süssmuth. Trotz offizieller Einladung des Außenministeriums wird die Mission der OSZE im Mutterland der Demokratie von manchem als „ungewöhnlich oder, um es krasser zu sagen, unangemessen betrachtet“, erklärt Rita Süssmuth.

Eine Expertengruppe verfolgt die Vorbereitungen seit zwei Monaten, morgen am Wahltag sind 96 Beobachter aus 34 Nationen im ganzen Land unterwegs. Einer davon ist Stephan Nash, früher britischer Botschafter in Albanien und Jordanien. „Dann lasst uns mal einen Blick werfen“, sagt er und steigt mit Ilze Milta von der litauischen Botschaft aus dem Wagen. Es ist Dienstag früh, Wahltag, Entscheidung zwischen frommem Commander-In-Chief und rationalem Massachusetts-Milliardär. Beide waren in Yale Mitglieder der Studentenloge „Skull & Bones“. Beide kommen aus einer der etwa 200 Machtfamilien, die zur Klasse der Geldaristokratie gehören. Kaum eine entscheidende Position in den USA wird ohne diesen Zirkel erreicht.

Vor der Tür der „Lutheran Church“ in einem Vorort von Baltimore, Maryland, steht eine lange Warteschlange. „Anderthalb Stunden haben sie uns gesagt“, so ein dunkelhäutiger junger Mann am Ende. Kinder schlafen auf dem Arm ihrer Mütter. Im Gemeindesaal zwei Reihen „AVE Advantage“, elektronische Wahlmaschinen. Veratmete Luft. Nash findet die beiden „Electoral Officer“. Der republikanische Vertreter Malcom Mason hat von der OSZE noch nie gehört, nach einem Blick auf den Ausweis ist er aber auskunftbereit. „Das ist schließlich Amerika“, sagt er. Mason ist über siebzig und außer Atem: „So viele Wähler hatten wir hier noch nie.“ Manson antwortet auf den Fragebogen von Nash. Probleme mit den Maschinen? Keine.

Oder doch auswandern?

Bevor der Speicher am Abend gelöscht wird, werden drei Kopien ausgedruckt. Sie zeigen das Endergebnis, nicht die einzelne Stimme. Wer der Elektronik nicht traut, darf auf Papier wählen. Kaum einer tut das. Parteifunktionäre, die einzelne Wähler herausfordern, mit dem Verdacht, nicht legal wählen zu wollen, sind nicht anwesend. Wer neu ist, muss einen Ausweis zeigen. Nash notiert auf seinem Fragebogen, spricht mit den wartenden Wählern. Keine Klagen. Er trinkt einen Kaffee und sagt draußen: „So weit alles in Ordnung.“ Das ist der Eindruck des Morgens. Auch in anderen Wahllokalen. Überall lange Schlangen, viele junge Gesichter. „Sollte Bush gewinnen, wandere ich Weihnachten aus, vielleicht nach Curaçao“, sagt David Scondras, ein Campaigner für Kerry, den ich am Mittag im Zug zurück nach Washington treffe. Auswandern, die beliebteste Floskel der letzten Wochen. Doch so weit soll es nicht kommen, Scondras hat beste Laune. Ein Freund hat ihn gerade angerufen, bis zu zehn Prozent Vorsprung für Kerry verraten die „Exit Polls“, aktuelle Prognosen.

In D.C. ist der Sommer zurück, die Sonne strahlt warm vom Himmel, zwei Mädchen tragen ihr Kerry-Edwards-T-Shirt bauchnabelfrei. Rita Süssmuth hat für den Nachmittag ein Taxi gemietet. Einen antiken Lincoln, keine Klimaanlage, braune Ledersitze. Ihr Tross besteht aus einer Assistentin und zwei Journalisten. Fahrer Eric aus Nigeria liest an der Ampel in der Bibel. Es wird eine lange Tour durch zehn Wahllokale in Fairfax County, Virginia. Die Schlangen jetzt etwas kürzer, Wahltag in den USA ist ein normaler Arbeitstag. „Poll Watcher“ der Parteien vergleichen Listen, wer bis vier Uhr nicht gewählt hat und registriert ist, bekommt einen Anruf. „Lebst du noch? Brauchst du ein Auto?“, so Demokratin Leonora Marquis in Alexandria. „Keine Unregelmäßigkeiten bisher“, stellt Rita Süssmuth fest, sie arbeitet den Fragebogen schnell durch. Spricht mit den Wahlhelfern, erklärt die OSZE, erschrickt etwas, als einer übergewichtigen Wählerin in der Schlange schnell ein Stuhl untergeschoben wird.

Auf dem Parkplatz zum ersten Mal ein Bush-T-Shirt. Die Trägerin hat gerade ihren Honda Civic in einen Mercury geknallt. Es ist dunkel. Kurz vor neun. Ich liege auf dem geblümten Bett im Comfort Inn-Motel. Einzig geschmackvoller Gegenstand in diesem Zimmer: der Fernseher, groß wie eine halbe Tischtennisplatte. Switch durch die Kanäle, CBS ist am schnellsten. Die Staaten im Osten sind farbig. Ich klebe einen roten Esel (Republikaner) auf Virginia, einen blauen Esel (Demokraten) auf Maryland in die Wahlkarte. Eine Zeitungsbeilage von CNN.

Schmetterlingsspannung

Es beginnt das große Warten. Gestreckte Zeit. Schmetterlingsspannung. Nach Mitternacht. Augenflimmern, klar ist: Übersexy wird das nicht. Bisher keine Staaten anders als vor vier Jahren. Florida für Bush. Die Exit Polls waren eine verschimmerte Fata Morgana. 2000 kein Unfall, kein Wachrütteln. MTV noch mit „The Youth Vote“-Claim segelt schon in frischem Wind, schaltet ins Ronald Reagan Center zur Wahlparty der Republikaner. Reporterin Su Chin Pak feiert Bush als American Pop Idol, nennt ihn: „Rockstar und großen Führer“. Um 1.01 Uhr bollert Fox nach vorne, Ohio für Bush. Discovery Channel zeigt „Monster Nation“. Brennende Raketentrucks rasen 350 Meilen schnell mit einem Flugzeug um die Wette. Die Kiefer der Zuschauer zittern vor Erregung. Der Fahrer ist hart, beschreibt den Kick seines Monsters im Interview: „Mass power, mass destruction“.

Fast vergessen, die USA sind ein schrecklich weites Land. Auf dem Wetterkanal Jazz-Musik, in Texas schneit es. Halb drei. Washington in der Nacht sieht aus wie ein gepflegter Englischer Garten. Ich jogge durch die leere Straße runter zur Mall. Im Kopf: Bush liegt auch bei der absoluten Zahl der Stimmen vorne. Was passiert ist, kein Getrickse, die Wahlen sind, das schreibt auch die OSZE in ihrem Bericht, zwar verbesserungswürdig, aber von Betrug kann keine Rede sein. 3,5 Millionen Stimmen mehr für die Republikaner sind eindeutig. 50 Prozent und mehr wollen Bush und die Neokonservativen. Gewählt, nicht ernannt.

Der Anteil der Wähler unter 30 beträgt wie vor vier Jahren 17 Prozent. Weit weniger als erwartet, 54 Prozent, haben für Kerry gestimmt. Vor dem Ronald Reagan Center stehen sie sich gegenüber. Rock ’n’ Roll gegen Rollback. An der Ecke die Kerryites. Zwei Dutzend, keiner über 25. Schräg rasierte Frisuren, Kapuzenpullover, T-Shirts, die Hautfarben unterschiedlich getönt. Sie haben Kerzen angezündet. Rufen: „No more Bush, no more fear, out of here“. Polizisten bewachen die Gruppe. Um sie stehen die Bushies. Keiner über 25, klassische Frisuren, alle weiß, Tommy-Hilfinger-Polos. Glücklich aufgepeitschtes Geschrei: „Four more years“. Ein Mädchen steigt in ein Aspen-Taxi und lässt einen letzten Gruß: „Kerry is the son of a bitch.“ Ihr Freund: „We put you all in jail.“ Zurück schreit es: „Fascists.“ Der Wahnsinn fängt gerade erst an.