Die Welt ist ein kolossaler Resonanzkörper

Geräusche mit Haut und Haar wahrnehmen: Thomas Riedelsheimers Film „Touch the Sound“ stellt die gehörlose Perkussionistin Evelyn Glennie vor

Eine zierliche Frau inmitten der großen Haupthalle der Central Station, New York: Nur mit einer Snare Drum ausgestattet, beginnt sie, in dem riesigen Gebäude zu spielen. Vom Trommelfell breiten sich Eruptionen im Raum aus, werden von den Wänden zurückgeworfen, vermischen sich mit den Gesprächen und Geräuschen der Passanten. Viele von ihnen bleiben stehen, bilden einen Kreis um die Trommlerin – für sie eine vielleicht begabte, aber völlig anonyme Straßenmusikantin, wie man sie in Manhattan eben alle paar Meter trifft.

Doch bei dieser hochkonzentriert arbeitenden Person handelt es sich um eine weltbekannte Musikerin. Und sie ist stumm. Mit acht Jahren wurde bei Evelyn Glennie ein akustischer Wahrnehmungsschaden festgestellt, als Dreizehnjährige musste sie ein Hörgerät tragen. Aus Sicht der Schulmedizin war sie ein hoffnungsloser Fall. Heute umfasst ihre Werkbiografie mehr als zwanzig CD-Veröffentlichungen. Als global gefragte Perkussionistin gibt sie zahllose Konzerte, moderiert zwei eigene BBC-Programme, arbeitet als Dozentin und Pädagogin.

In der Eingangssequenz des neuen Films von Thomas Riedelsheimer bündelt sich der ästhetisch-inhaltliche Ansatz: Phänomene der sinnlichen Wahrnehmung werden aus einer leicht versetzten Perspektive beleuchtet, erscheinen zunächst als schillernde Mimikry, enthüllen dann überraschend eine zweite Natur – eine Art dokumentarischer Suspense. Wenn wir der Frau in der Bahnhofshalle beim Musizieren zusehen, wissen wir noch nichts von ihrem körperlichen Handicap. Später thematisiert der Film diesen Umstand zwar eingehend, vermag ihn aber durch die Nähe und Intensität der Beobachtung wieder in den Hintergrund treten zu lassen. Evelyn Glennie wird so als die großartige Musikerin porträtiert, die sie ist, nicht als eine mit einem Gebrechen geschlagene und damit potenziell bemitleidenswerte Frau, die durch irgendeinen Trick ihre Behinderung erfolgreich zu überlisten wusste.

In „Touch the Sound“ macht Riedelsheimer den Weg dieser Emanzipation auf ebenso undidaktische wie nichtlineare Weise nachvollziehbar. Er begleitet Glennie bei Reisen nach Japan und Deutschland, in die USA und nach Schottland – dem Ort ihrer Herkunft. Die Wiederbegegnung mit der elterlichen Farm rekapituliert ihren Schock über das unweigerliche Eintreten der Taubheit. Mit Unterstützung ihres Vaters gelang ihr die Auflehnung gegen den vermeintlich irreversiblen Schicksalsschlag. Sie lernte allmählich, ihren gesamten Körper als Hörorgan zu benutzen, die verbliebenen Sinne zum sprichwörtlich „sechsten Sinn“ zu verbinden und dadurch die verlorene Wahrnehmung über die Ohren zu ersetzen. Das klingt geheimnisvoll, fast esoterisch, basiert aber auf sehr konkreten, praktisch erlernbaren Techniken. In ihren Workshops mit gehörgeschädigten Kindern gibt Glennie dieses Vermögen, „den Klang zu berühren“, weiter.

„Touch the Sound“ führt den Titel noch weiter aus. Mit der von Riedelsheimer selbst geführten Kamera und der subtil abgemischten Tonspur erschließt der Film die Welt als kolossalen Resonanzkörper, lässt Alltagsgeräusche, Gesprächsfetzen oder Baulärm in seine nach allen Seiten offene Partitur konkreter Musik einfließen. Mitunter zitiert er dabei den eigenen Vorläuferfilm „Rivers and Tides“, verweist anhand elementarer Strukturen – sich kräuselnde Wasseroberflächen, wiegendes Gras oder ziehende Wolkenfelder – auf die Dialektik zwischen mikro- und makrokosmischen Dimensionen. Hier ist „Touch the Sound“ nicht immer frei von Banalitäten, neigt mehr zur Illustration denn zur Kontrapunktion. Diese kleinen Abstriche werden aber mehrmals aufgewogen, nicht zuletzt durch die Improvisationen mit dem grandiosen Gitarristen Fred Frith in einer leer stehenden Kölner Fabrikhalle.

CLAUS LÖSER

„Touch the Sound“. Regie: Thomas Riedelsheimer. Deutschland/Großbritannien 2004, 100 Min.