Mund auf!

„3 nach 9“, die dienstälteste deutsche Talkshow, wird 30. Dass der DDR-Talk zur selben Zeit halb so alt wird, ist offenbar keine Party wert

VON JAN FREITAG

Sie ist in aller Munde und doch unbeschreiblich: die Talkshow. Auch Dietmar Schönherr war bei der Premiere der ersten deutschen Talkshow ratlos: „Was das ist“, sagte der WDR-Moderator 1973 bei „Je später der Abend“, „wissen Sie nicht und wir auch nicht so genau.“ Debattierrunde oder Anhäufung von Monologen? Multithematisch oder rein politisch? Mit Livebands, Filmen, Publikum? Schönherr zog das Kind US-amerikanischer Eltern – Vorbild war die „Merv Griffin Show“ – quasi im Alleingang groß. Und das mit Erfolg: Die Erstausstrahlung von „Je später der Abend“ am 4. März 1973 gilt als Geburtstag des deutschen Talks. Dauergeschichte schrieb aber eine andere Show: „3 nach 9“ von Radio Bremen. Die hanseatische Plauderei wird am 19. November 30 Jahre alt. Die Moderatoren Giovanni di Lorenzo und Amelie Fried feiern den Geburstag aber schon heute mit einer Jubiläumsgala.

Eine Westparty, denn der Osten war Talkshow-Brachland. „Weil sie live sein muss“, erklärt ihr Ostpionier, RBB-Moderator Hellmuth Henneberg. „Und die Führung hatte natürlich Manschetten davor, wenn jemand live seine Meinung sagt.“ Das war vor 15 Jahren nicht anders, doch am 24. November 1989 begrüßte der Rostocker bei „elf99 – Talk mit open End“ erstmals Talkgäste im DDR-TV. „Da herrschte beim Fernsehen blanke Anarchie“, erklärt Henneberg die staatliche Zurückhaltung.

Entsprechend unkoordiniert war auch sein Sprung von der Jugendsendung „elf99“ in die Primetime. Eigentlich sollte Jan Carpentier moderieren, jener „Held von Wandlitz“, der als Erster das Luxusleben der Politkaste gefilmt hatte. Nach dessen Absage suchte man hastig Ersatz und fand ihn im jungen Redakteur Henneberg. „Weil ich gerade zufällig beim Sender war“, erzählt er. Am Abend dann saß der 30-Jährige mit Gästen wie Friedrich Schorlemmer oder seiner späteren Komoderatorin Gisela Oechelhaeuser vor der Kamera.

Bis dahin, so ist auch aus dem Deutschen Rundfunkarchiv in Babelsberg zu hören, war die DDR „talkfreie Zone“. Es gab zwar Vorgänger wie 1969 das seichte „Porträt per Telefon“ mit Heinz Florian Oertel. Aber das ganze Programm – MAZ-Einspielungen, Saalpublikum, Show, Musik – „hatten zu dem Zeitpunkt nur wir“, sagt Hellmuth Henneberg.

„Wundern Sie sich nicht“, bat er das Premierepublikum, „Sie sind im richtigen Programm.“ Und kaum wunderte sich keiner mehr, gingen die Gesprächsrunden wieder so schnell, wie sie gekommen waren. Formate wie „Zur Sache“, „Livezeit“ oder „Das Interview“ liefen nur Monate. Auch „samsTALK“, Nachfolger von „Talk mit open End“, ging 1991 mit dem Deutschen Fernsehfunk (DFF) unter.

Dafür hagelte es gesamtdeutschen Stumpfsinn. 60 Talkshows gab es 1996, auf dem Gipfel. Von Confrontainment wie „Der heiße Stuhl“ über Bekenntnis-, Versöhnungs- und Late-Night-Shows bis zu den Regionaltalks der Dritten. Die Eskalation wurde zur Marke, und Arabella brachte es mit Ballermann-Themen auf über 2.000 Sendungen. Gerade bei den Privaten durfte es knallen. Die Zuschauer waren um die 20, die Gäste oft Berufsaußenseiter.

Mittlerweile ist der Boom zugunsten von Gerichtshows vorbei. Intelligent getalkt wird meist nur noch nachts, und selbst da droht das Schmalzduo Beckmann/Kerner. Eine „Morton J. Downsey Show“, wo schon mal schwarze Bürgerrechtler auf Nazis einprügeln, sehen nur US-Zuschauer.

„Es gibt jede Menge Boulevard“, meint Ostpionier Henneberg. Auch bei „3 nach 9“. „Einäugige unter den Blinden“ nennt er sein früheres Vorbild heute. „Früher war darin politisch viel Kontroverses enthalten. Davon sind heutige Sendungen nur ein Aufguss.“ Die Revolution hat ihre Kinder entlassen.