Bitte nicht küssen!

Wessis stehen später auf, Ostler mögen keine „Bussis“ und haben für den Notfall immer Holz im Keller: Hartnäckig halten sich die kleinen Unterschiede auch noch fünfzehn Jahre nach dem Mauerfall

VON HEIDRUN HANNUSCH

„Ich erkenne den Ossi, wenn er zur Tür hereinkommt“, sagt der Gastwirt einer Dresdner Gaststätte. Und erzählt von der älteren Frau, die mit gehetztem Blick in die Kneipe stürmt. Sie setzt sich an einen freien Tisch, Sekunden später wechselt sie zu einem anderen, vermeintlich besseren, und stellt die Tasche auf den Nebenstuhl, damit den kein anderer erobert, bevor ihr Mann kommt. „Die denken immer, denen wird etwas weggenommen“, meint der Wirt, ein einstiger DDR-Flüchtling und Wende-Rückkehrer.

Dem Ossi-Erkenner nehmen wir zunächst einmal den Glauben an seine Kompetenz weg. Die Frau ihm gegenüber, die er für eine Westdeutsche hält, ist es nicht. Dabei hätte er es durchaus wissen können, hätte er Monika Maron gelesen. Westfrauen haben Frisuren, Ostfrauen haben Haare, hatte die einmal geschrieben. Aber eineinhalb Jahrzehnte seit dem freien Zugang zu den gleichen Friseurzeitschriften ist auch diese Identifizierungsformel vage geworden.

Erkennt man nach einem 15-jährigen Transformationsprozess von Jugendmode zu Levi’s, von Trabi zu Golf, von Zonen-Gaby-Kräusel zu Christiansen-Bob tatsächlich noch jene, die im Osten aufgewachsen ist? Na klar, sagen die einen und nennen Dress-Codes: Anoraks, über den Anzug getragen, graue Windjacken im Vorruhestands-Partnerlook, helle Herrenschuhe mit Lochmuster. „Mein Vater lief auch so rum“, hält ein Kollege aus Kassel dagegen. „Am Äußeren erkenne ich es nicht mehr“, sagt auch ein Professor, der vor zwölf Jahren aus Nordrhein-Westfalen nach Dresden kam. Aber nachdem er lange über die Menschlichkeit der Ostdeutschen und ihre Wärme gesprochen hat, fällt ihm noch ein anderes Verhaltensindiz ein: „Sie benutzen ihre Servietten nicht.“ Stoffservietten sind gemeint und die Scheu, so was Feines zu beschmutzen. Und überhaupt, wie kriegt man das wieder sauber? Ein gewisser praktischer Zug, der geblieben ist. Deshalb werden auch Hausschuhe mitgebracht, wenn man in die Wohnung von Freunden eingeladen ist. „Das habe ich in Westdeutschland nie erlebt“, sagt eine Frau aus Ulm. Aha, die Servietten- und die Hausschuh-Regel also, aber ganz allgemeingültig ist wohl auch sie nicht.

„Ich merke es sofort, wenn die Gäste bestellen“, meint die Inhaberin einer Dresdner Bar. „Die im Westen Aufgewachsenen sagen: ‚Ich bekomme!‘, die aus dem Osten: ‚Könnte ich bitte haben‘.“ Letzteres ist nicht nur ein Zeichen von Höflichkeit, sondern der Erinnerung an Zeiten, als man mit dem Personal in wenigen und immer vollen DDR-Kneipen vorsichtig umgehen musste. Von der Mangelgesellschaft ist ein Mangel an Forschheit übrig geblieben.

„Sie sind Handgeber.“ Das sagt jeder, der nach ostdeutschen Verhaltensauffälligkeiten gefragt wird. Viel ist vor allem in den ersten Nachwendejahren über die Eigenheit der Neu-Ländler geschrieben worden, bei Begrüßung und Verabschiedung den begrenzten Körperkontakt per Hand zu suchen. Seither hat sich vieles geändert, die Bussi-Kultur ergreift immer mehr die Massen, selbst auf der Politikerebene. Aber die Ostdeutschen händeln weiter. Unter ihnen wird seltener „gebussit“ als unter Westdeutschen. Vielleicht erinnert sie das Ritual zu sehr an den Bruderkuss der alten Männer.

Russisch ist noch einer der sichersten Identifizierungsfaktoren. Um eine gemischte ost-westdeutsche Gruppe teilen zu wollen, muss nur eine Frage gestellt werden. Wie heißt der russische Fürst, der zum Zwecke der Täuschung von Kaiserin Katharina Fassadendörfer aufbaute. Jeder Westdeutsche wird „Potemkin“ antworten, jeder Ostdeutsche „Patjomkin“. Zwar haben ehemalige DDRler in einem späten Akt geistigen Widerstands das einmal gelernte Russisch nahezu vollständig vergessen, manchmal setzen sie es aber auch als subtile Waffe ein. „Wer das lesen kann, ist kein dummer Wessi“, steht in kyrillischen Buchstaben auf zwei Schildern einer kleinen sächsischen Firma. Die Chefin, die aus dem Westen kam, darauf angesprochen: „Mir hat keiner erzählt, was da draufsteht.“

Natürlich auch daran, wie sie die deutsche Sprache benutzen, sollt ihr sie erkennen. Obgleich das mit dem Dialekt schwieriger geworden ist, seit es „Sächsisch für Wessis“-Kurse gibt. Und sich gebürtige Sachsen zur Logopädin begeben, um Hochdeutsch zu lernen. Selbst wenn die zu bedenken gibt, die durch den Gebrauch des Sächsischen hervorgerufene „gewisse Schlaffheit des Artikulationsorgans“ sei schwer rückgängig zu machen. Mal abgesehen vom Dialekt: Sagt jemand „BRD“, ist er zu 99 Prozent ein ehemaliger DDRler und nur zu einem Prozent ein ehemaliger DKPler. Auch gehen den Bewohnern der neuen Bundesländer deutschen Namen für polnische Städte schwer über die Lippen. Sie sagen Wrocław statt Breslau und Gdańsk statt Danzig.

Und im Ausland, wie erkennt man sie da? Jüngst war in New York die Gelegenheit zur innerdeutschen Recherche. Ein Taxifahrer, der – kaum zu glauben, aber wahr – wissen wollte, wie das ist in Deutschland nach dem Fall der Mauer, wurde befragt, ob er in einem deutschen Fahrgast den Ostdeutschen ausmachen könne. Er bejahte und erklärte: „Schlechtes Englisch, wenig Trinkgeld.“ Der Taxifahrer kam übrigens aus Moskau.

Aus Hamburg, München oder Dortmund kommt mittlerweile bestimmt die Hälfte der Bewohner eines besonders feinen Viertels am Dresdner Elbhang. Aber wenn sie dort sonnabends relativ früh zum Bäcker gehe, erzählt eine Ur-Dresdnerin, seien die Ostdeutschen unter sich. Wessis stehen später auf. Ein Satz, wie gemacht für eine Losung zur Montagsdemo.

Wenn der Wecker bei einem Ostdeutschen um 6.45 Uhr klingelt, dann ist das drei viertel sieben und nicht Viertel vor. Aber die ostdeutschen Frühaufsteher sind auch schnell zu verschrecken. Wie diese Meinungsäußerung zeigt: „Wenn man einen Ostdeutschen anschnauzt, ist er ganz schnell eingeschüchtert.“ Der scheue Ossi also. Und der naive. Noch immer erzählt er mehr, als gut für ihn ist, er ist direkter, ungeschickter. Eine ostdeutsche Kollegin sagt der anderen, die den Job bekommen hat, den sie gern hätte: „Ich bin neidisch.“ Eine West-Kollegin, der es genauso geht, sagt dagegen: „Ich beneide dich nicht, den Job kann ja wirklich niemand schaffen.“ Nun ja, auch so was werden die Ostdeutschen noch lernen.

Nur eines lernen die mit dem Mangel an vielem Aufgewachsenen wohl nicht mehr: das kontrolliert-vernünftige Wegwerfen. Kurz vor der (ersten) Währungsunion sagte eine Schauspielerin in der Kantine eines DDR-Theaters: „Mir tut es in der Seele weh, wenn ich daran denke, dass ich jetzt das schöne Westgeld ausgeben soll, um Scheuerlappen zu kaufen.“ Vielleicht ist mit dem zweitneuesten Geld manches anders geworden, die Vorratshaltung aber nicht. Sie mögen Kaschmir tragen, BMW fahren und niemals nie BRD sagen, aber schauen Sie mal in ihre Keller. Da stehen sie noch: abgebrochene Holzlättchen, Reste des verrotteten Holzbettes. Dass Holz ein nachwachsender Rohstoff ist, sah man in DDR-Regalen nicht. Und egal, ob man heute nur zum Baumarkt fahren muss, Holz wird nicht weggeworfen, Holz kann man immer brauchen.

Deshalb, wenn Sie sichergehen wollen beim Ossi-Erkennen: Fragen Sie den Kandidaten in seinem Keller, wie der Name jenes russischen Fassaden-Fürsten ausgesprochen wird, und versuchen Sie dann, ihn zum Abschied zu küssen.

HEIDRUN HANNUSCH ist Redakteurin bei den „Dresdner Neuesten Nachrichten“