Wirklich so sein

Überhaupt kein Kalkül, nur fachlicher Respekt und Freundschaft: Warum es bei der Berliner Lesebühne „Chaussee der Enthusiasten“ ausschließlich ostdeutsche Autoren gibt

Schon bald nach der Gründung unserer Lesebühne, der „Chaussee der Enthusiasten“, wurde uns unterstellt, wir hätten ganz bewusst nur ostdeutsche Männer als Mitglieder. Dabei hätte man als Gemeinsamkeit auch hervorheben können, dass wir alle unter kleineren oder größeren Behinderungen leiden. Die Medien unterstellen einem aber für alles Kalkül. Es kann ja nicht anders sein, als dass sich da einige Autoren genau überlegt haben, auf welchem Weg sie den Erfolg erzwingen können, da sie als Ostdeutsche von der westlich dominierten Verlagslandschaft ignoriert worden sind. Dass man einfach macht, was einem gefällt, geht ihnen nicht in den Kopf.

Tatsächlich hatte zur Zeit unserer Gründung kaum einer von uns Ambitionen, veröffentlicht zu werden. Kommen Westdeutsche bei uns nicht an, weil sie nicht unseren Humor haben? Das klingt ein bisschen nach „White men can’t jump“. Wer Humor für eine ostdeutsche Tugend hält, muss sich nur einmal alte Ausgaben des Eulenspiegel ansehen. Außerdem haben wir ja nie versucht, komisch zu sein.

Eine Besucherin, die uns nach der Lesung am Tresen reden hörte, konstatierte bestürzt: „Ihr seid ja wirklich so!“ Wer auch wirklich so ist, ist uns willkommen. Humor als Waffe der Machtlosen? Wir sehen uns ja gar nicht als Verlierer.

Man unterstellt uns Karrierestreben, Understatement sei nur unser Markenzeichen im Wettbewerb. Dieses zweckrationale Denken unserer Kritiker zu begreifen hat seine Zeit gedauert. Westler empfinden sich als politischer, wobei ihr Politikbegriff sehr eingeschränkt ist. In der DDR war das ganze Leben politisch. Traf man sich mit Freunden zum Feiern, konnte das als Widerstand empfunden werden. So ist auch heute mein Politikbegriff. Wer schreibt, ist automatisch politisch, weil er mit Sprache arbeitet, der Substanz des Menschen. Wer dazu noch Menschen zum Lachen bringt, ist schon fast staatstragend. Aber unser einziges westdeutsches Mitglied hat uns nach kurzer Zeit mit dem Vorwurf verlassen, wir seien Kryptofaschisten, da wir uns weigerten, ein Mitglied auszuschließen, das sich nicht vom vermeintlichen Naziklub BFC Dynamo distanzieren wollte. So kann man nicht arbeiten. Was uns zusammenhält, sind fachlicher Respekt und Freundschaft. Sind wir also eine Ersatz-DDR? Die Gruppe als private Schrumpfform der gesellschaftlichen Utopie? Aber das Patent auf die Utopie einer Werkgemeinschaft hält sicher nicht die DDR. Mir fallen dabei eher Brecht und Warhols Factory ein.

Mit der DDR wüsste unser Publikum übrigens kaum noch was anzufangen. Wir sind sechs Individuen, manche davon ausgesprochen DDR-geschädigt. Ästhetisch haben wir wenig gemein. Wöchentlich bringen wir 200 junge Menschen dazu, sich freiwillig Texte anzuhören. Die vielen ausländischen Besucher staunen Bauklötze, dass man im Autobahnland auch lachen kann. Wir sind Botschafter eines selbstironischen, geschichtsbewussten, begeisterungsfähigen, unprätentiösen, neurotischen Deutschlands – dafür müssten wir längst das Bundesverdienstkreuz tragen. Das wäre dann tatsächlich ein Schritt in Richtung innere Einheit. JOCHEN SCHMIDT

JOCHEN SCHMIDT, geboren am 9. 11. 1970, ist Mitglied der Chaussee der Enthusiasten und Romanautor. Sein letzter Roman: „Müller haut uns raus“ (C. H. Beck)