Am Nabel der Texte

Der 12. Open-Mike-Wettbewerb war ein Popkonzert, bei dem Christian Schloyer für seine sprachmächtigen Gedichte zum Sieger gekürt wurde

VON GERRIT BARTELS

Eine kurze Zeit erinnerte die Atmosphäre im gut besuchten Berliner Podewil gar an ein Popkonzert kurz vor Beginn des Hauptacts. Da schien es, als würde das Publikum seine Ungeduld und seinen Unmut gleich mit lauten Pfiffen kundtun – nicht, weil die Texte so schrecklich waren, die es bei diesem zum 12. Mal stattfindenden Open-Mike-Wettbewerb ein Wochenende lang gehört hatte, sondern weil die Jury an diesem frühen Sonntagabend mehr Zeit für ihre Entscheidung benötigte als eingeplant.

Es muss also ein anständig hartes und zähes Ringen zwischen den drei Juroren Michael Lentz, Christina Viragh und Thomas Hettche gewesen sein; ein Ringen, das auch dadurch dokumentiert wurde, dass Thomas Hettche mit Matthias Sachau und Christoph Pollmann erst einmal zwei Kandidaten aus dem potenziellen Gewinner-Pool nannte und begründete, warum diese beiden es letztlich nicht auf das Treppchen geschafft hatten.

Stattdessen landeten die zart und anmutig vorgetragenen, bisweilen sprachmächtigen und schwergewichtigen, bisweilen etwas blutarmen Gedichte des 28-Jährigen Wortwerkers Christian Schloyer auf dem ersten Platz, gefolgt von Prosatexten des 1977 geborenen René Becher, der in Leipzig am Literaturinstitut studiert, und der jüngsten Teilnehmerin des 18-köpfigen Feldes, der erst 22-jährigen Rabea Edel. Zwei Auszeichnungen, die wie das Zugeständnis an den Trend der kaputten Beziehungsgeschichte wirkten: Der Text von René Becher war eine etwas kryptische Geschichte über einen jungen Mann, dem der leibliche und der himmlische Vater verloren geht, über das, was der Katholizismus so anrichten kann (auch ein schwuler Pfarrer kommt vor); und der von Rabea Edel eine Jungmädchengeschichte, in der zwei junge Schwestern mit einer depressiven Mutter denselben Mann versuchen zu lieben, und von denen die eine als Wasserleiche endet.

Nun braucht es bei Wettbewerben dieser Art nicht groß zu kümmern, wie gerecht diese Entscheidungen nun wirklich waren – die langwierige Entscheidungsfindung bestätigte zumindest, dass das Feld ausgeglichen war und kaum Ausfaller nach unten hatte. Es gab zwar Ermüdungsentscheidungen, weil schon wieder eine schwierige Beziehungs-, eine Vater-Sohn-, eine Vater-Tochter- oder eine sonstige Familiengeschichte erzählt wurde; auch merkte man bisweilen, dass der Open Mike noch eine andere Liga als das Bachmannlesen in Klagenfurt darstellt und wirklich aller literarischen Mühen und Ehren Anfang ist – was wiederum die dieses Mal nahezu vollständig erschienenen Verlagsvertreter und Agenten umso nervöser machte: Hier hat noch nicht auf jedem Autor die Konkurrenz einen Daumen drauf.

Aber dann war es in den Unterhaltungen im Foyer des Podewils doch immer wieder so, dass man hier noch einen guten Text zu nennen wusste und dort einen anständigen gehört hatte, dass eben das meiste grundsolide war, nicht zuletzt, weil die Vorträge professionell eingeübt und passgerecht auf die 15 Minuten Lesezeit zugeschnitten waren. Denn natürlich sind beim Open Mike immer die ganz jungen am Start, war an diesem Wochenende oft und überflüssigerweise von dem „Mut“ der Autoren die Rede, ihre Texte live vorzustellen – trotzdem gibt es hier selten Autoren, die einfach mal drauflosgeschrieben haben, um dann wie aus heiterem Himmel dabei zu sein. Da sind allein die von den einschlägigen Verlagen stammenden sechs Lektoren vor, die dieses Mal aus über sechshundert Einsendungen auszuwählen hatten.

Allerdings, das muss man dann doch einschränkend sagen, fiel bei diesem 12. Open Mike der mangelnde Wagemut der meisten Autoren und Autorinnen auf – gerade Sätze, ja, gefälliges Schreiben, okay, Literaturinstitutsliteratur, nun gut. Aber sonst? Das Gros der Texte war als Nabelschau angelegt und dokumentierte traurige oder öde Lebenswelten. In diesen werden Frauen von Männern verlassen und versuchen damit klarzukommen, wie bei Monika Zeiner; da arbeiten Frauen als Prostituierte und werden sich bei einem Freier, der nur reden will, wieder ihres verlorenen Vaters gewahr, wie bei Karola Foltyn-Binder, der ehemaligen Raubvögelpflegerin; oder da verlassen Frauen ihre Männer, weil diese sich bei Ikea besaufen, wie in der Kriminalgroteske von Stefan Schein.

So scheinen sich beim Open Mike Jugend und Erfahrungsarmut ganz gut zu ergänzen, und vielleicht spiegelt sich ja auch das Lektorat darin, das weiß man bei 600 Einsendungen nie so genau (oder war der Rest wirklich Schrott?). Im krassen Gegensatz dazu brachten die Autorenbiografien mitunter Erstaunliches zutage: Pariser Kindheiten, deutschamerikanische Elternhäuser, Jobs wie eben Raubvögelpflegerin, Bauarbeiter oder Energietechniker. Ein leider nicht gehobenes Stoffreservoir.

Vor diesem Hintergrund war man dankbar, dass Christian Pollmann seine Geschichte im lettischen Riga ansiedelte und es dabei an postsowjetischem Lokalkolorit und heftig-deftigen Szenen nicht fehlen ließ, da störte auch der von der Jury monierte Manierismus nicht. Oder dass ein Youngster wie der 24-jährige Peter Clar die Sprache selbst in den Mittelpunkt seines rhythmischen Vortrags rückte oder Nikolai Vogel in seiner vielleicht eine Idee zu extrovertiert vorgetragenen „Geld Scheiße“-Collage immerhin in Gedanken eine Platte von Aphex Twin gehört hatte. Toller wäre selbstredend ein aphextwinartiger Text gewesen, ein Text mit wüstem Drum-’n’-Bass-Geklöppel genauso wie mit klassischen Elementen. Gut vorstellbar, dass diese Texte der durchaus mutigen und richtigen Entscheidung zum Opfer fielen, einen Lyriker zum Sieger des Wettbewerbs zu machen.