Durchgewunken, das Neue

Die Politik schaut vorbei, der Bundespräsident breitet im Radio seine Jazzkenntnisse aus: Das 40. Berliner JazzFest hatte keine Probleme mit dem Zusammentreffen der Generationen und Milieus. Stattdessen fehlte es allerdings an einer prägenden musikalischen Handschrift und an Experimenten

VON CHRISTIAN BROECKING

Dass die Justizministerin von der subversiven Kraft des Jazz spricht, wundert keinen mehr. Dass sie von „wir“ und über Bundeskulturmittel redet, zeigt, wo das JazzFest nach 40 Jahren angekommen ist. Abgeordnete und Botschafter zeigten sich beim JazzFest-Empfang am Donnerstagabend in der Philharmonie, da, wo 1964 die ersten Berliner Jazztage stattfanden. In einer Arte-Dokumentation zum JazzFest-Jubiläum, die am Samstag gesendet wurde, ist zu sehen, wie umkämpft der Jazz in den Sechzigerjahren war. 1969, als Duke Ellington sich in das Goldene Buch der Stadt eintragen durfte, wurde er vom Jazzpublikum in der Philharmonie für seine Nixon- Freundschaft abgestraft. Der Vietnamkrieg wurde von Tag zu Tag grausamer, aber Sarah Vaughan sang „My funny Valentine“. Das ging nicht gut.

Die Künstler und Macher verstanden Berlin nicht mehr, die Kritiker waren nur „doof“, das Publikum ungerecht und respektlos. Doch das eigentlich Verblüffende war, dass der Jazz und die Rezeption sich in den Folgejahren grundlegend änderten. Damals galten die Berliner Jazztage noch als eines der führenden Festivals weltweit. Erst Anfang der 80er-Jahre war es mit dem Buhen in Berlin vorbei. Als sich die Sängerin Betty Carter 1976 trotz großer Vorbehalte zu den Berliner Jazztagen traute, war völlig offen, wie ihr revolutionärer Umgang mit dem Great American Songbook vom Berliner Publikum angenommen werden würde. In dem Arte-Film sieht man sie dann nach dem ersten Stück sichtlich erleichtert. Durchgewunken, das Neue.

Nur, das ist lang her. „Man ist alt geworden“, sagt Albert Mangelsdorff, selbst auch mal JazzFest-Leiter gewesen. Mangelsdorff war bei den ersten Berliner Jazztagen dabei, mitten auf dem Weg zu einer Weltkarriere als innovativer und stilprägender Posaunist – jetzt, von Krankheit und Schmerzen gezeichnet, spielt er noch einmal zwei stolze Soli beim Eröffnungsabend in der ausverkauften Philharmonie. In der NDR-Bigband, die Mangelsdorffs Komposition an diesem Abend interpretiert, sieht man viele junge Musiker. Der Generationswechsel hat das Gesicht des deutschen Jazz in den letzten Jahren sichtlich verjüngt.

Umso eigenartiger dann, dass Diedrich Diederichsen in einem Auftragsartikel für den Berliner Tagesspiegel einen „Definitionsversuch“ hinlegt, der fast ausschließlich von Problemen handelt, die vor zwanzig Jahren aktuell waren, als man dem Fusion gerade den Strom abschaltete und junge neokonservative Traditionalisten auf die großen Bühnen stellte. Damals mag es ein Imageproblem des Jazz gegeben haben und man machte sich Sorgen, woher das Publikum sich verjüngen könnte. In dieser, ja, Rezeptionsschleife spekuliert Diederichsen nun immer noch über ein zu altes Publikum, das Jazz als die Musik seiner Jugend hört und Abweichungen davon sehr argwöhnisch begegnet. Dabei trifft man heute ein Publikum, das in der Jugend Jazz gehört hat, wohl nur noch sehr selten an. Die meisten JazzFest-Besucher gehören mittlerweile einer Generation an, die irgendwann später als Quereinsteiger zum Jazz gekommen ist. Was vor Puristen und Dickköpfen natürlich auch nicht schützt. Jazz als angesagte Tanzmusik und Jugendkultur haben sie nicht mehr selbst gelebt.

Wenn der Jazz heute noch ein Problem mit dem Publikum hat, dann, dass es ein knappes Gut geblieben ist. Beim Berliner JazzFest funktioniert zwar der Eventcharakter – fast alle Konzerte waren ausverkauft, 10.000 Besucher kamen – so gut, dass selbst die Musiker sich fragen, weswegen die Leute in Scharen strömen. Im ganz normalen Jazzalltag gibt es solche Nachfrage jedenfalls nicht. Dem Jubiläum galt der Eröffnungsabend in der Philharmonie, die man vor zehn Jahren zum letzten Mal bespielt hatte. Die Politik schaute vorbei, der Bundespräsident breitete im Radio-Interview Backstage seine Jazzkenntnisse aus, und als Zypries „wir“ sagte und wer der Geldgeber sei, gab es Vorschläge in Richtung JazzFest-Leitung. Man möge das parallel stattfindende Total Music Meeting (TMM) stärker in die JazzFest-Struktur integrieren und auch die vielen Berliner Clubs.

Beim TMM, das diesmal im Auditorium der neu eröffneten Berlinischen Galerie stattfand, dirigierte Butch Morris seine 143. Echtzeitkomposition, und die Pianistin Irène Schweizer und der Schlagzeuger Louis Moholo gaben ein inspiriertes Duokonzert. Mit der Verschärfung der Apartheid, die 1963 auch das Verbot gemischter Musikgruppen zur Folge hatte, sahen sich die „Blue Notes“ genötigt, Südafrika zu verlassen.

Die Band hatte damals das nationale Jazzfestival in Johannesburg gewonnen: Chris McGregor, der als Weißer ins Gefängnis musste, weil er aus musikalischen Gründen nur mit Schwarzen zusammenspielte, Johnny Dyani, Dudu Pakwana, Mongezi Feza und Louis Moholo. Moholo ist der einzige Überlebende der Band – die anderen seien im Exil an gebrochenem Herzen und verletzter Seele gestorben, sagt er. Unlängst waren Schweizer und Moholo mit ihrem Free-Spirit-Duo durch Südafrika getourt und wurden wie Popstars gefeiert. „Endlich sind wir auch mal hip“, sagte Moholo, der zwei Tage nach dem Berliner Konzert und nach über 40-jährigem Exil nun in seine südafrikanische Heimat zurückgekehrt ist. Beim TMM wurden auch der Schlagzeuger Han Bennink und der Pianist Misha Mengelberg gefeiert, die tags zuvor schon mit dem ICP-Orchestra und einer Eric-Dolphy-Hommage beim JazzFest im Haus der Festspiele aufgetreten waren.

Das Problem mit den historischen Großensembles der improvisierenden europäischen Szene ist ihr Hang zum Klamauk. Während beim ICP und seiner Mischung aus freier Inszenierung und Marschklotzigkeit immer noch radikale Spielhaltung durchscheint, scheiterte das Willem Breuker Kollektief mit einer angestrengten und fast schon enervierenden Werktreue an Gershwins „Rhapsody in Blue“ gleich beim Eröffnungskonzert. Aber auch das gehört zum Geschäft: Festivalprojekte, die gründlich danebengehen. Diederichsens Jazzdefinition von „prozessualer Kunstform“ erinnert in diesem Kontext dann auch mehr an Gruppentherapie und Selbsterfahrung, der aktuelle Jazz, den man bei diesem Festival hören konnte, klang jedenfalls wesentlich ergebnisorientierter.

Irgendwann hat sich das Berliner JazzFest darauf versteift, von den teuren Stars abzulassen und junge Musiker zu präsentieren, die noch unbekannt und preiswert sind. Das Problem ist, dass sie auch gleich noch die einzige JazzFest-These untermauern sollen, der europäische Jazz sei heute viel spannender als der amerikanische. Allein mit der Eigenständigkeit, von der die Musiker selbst meist nicht viel wissen wollen, ist es so eine Sache. Hört man das Programm zum Schwerpunktthema „Großbritannien“, entsteht der Eindruck, dass die junge englische Szene um den schwarzen Saxofonisten Denys Baptiste entweder amerikanischen Jazz imitiert oder wie der Pianist Huw Warren über nationale Folkidiome meditiert. Was nun die französische Version des auf die Musik projizierten Migrationstheorems betrifft, so schrieb die Berliner Zeitung nach zwei JazzFest-Konzerten mit dem Akkordeonspieler Richard Galliano über einen „Mann, der in der Welt weit herumgekommen ist, aber immer noch spielt, als schwebe ihm ein Baguette über dem Kopf“.

Auch die amerikanischen Projekte bei diesem JazzFest blieben im Rahmen. Ob jetzt die spirituellen Exkurse des Saxofonisten Charles Lloyd, die Coleman-Hawkins-Hommage des Saxofonisten Benny Wallace oder der Blues des Gitarristen Doug Wamble – überall schimmert Tradition und Bewahrung durch. Kein Turntablism diesmal, auch keine Electronic-Experimente, stattdessen hinter den Kulissen viel Aufhebens um die verlorene Wahl und die Hoffnung, dass die europäischen Veranstalter den amerikanischen Musikern nicht die Gigs streichen. Die Angst vor einem neuen Antiamerikanismus war diesen Künstlern deutlich anzumerken, zu Hause gibt es für ihre Musik eh kaum Jobs. Aus einer Position subversiver Stärke heraus spielte hingegen das Aki Takase Quintett mit dem amerikanischen Banjo- und Gitarrenprovokateur Eugene Chadbourne – radikal, verschmitzt, uneinnehmbar. Einsames Highlight dieses viertägigen Festivaljahrgangs, der viele Eindrücke hinterließ, aber keine Spuren legte.