Die elektronische Lehre erobert die Hochschulen

Der Strukturwandel zur virtuellen Uni ist voll im Gange und könnte von Studiengebühren weiter verschärft werden

Viermal die Woche im Call-Center arbeiten und ab und zu noch in der Eckkneipe kellnern – irgendwann dazwischen eine Vorlesung. Der Studi, der während der angeblich schönsten Zeit des Lebens noch dazuverdienen muss, könnte schon bald der Normalfall sein. Die richtungweisende Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu den Studiengebühren wird sich längerfristig jedoch auch auf die Form des Studierens auswirken. Denn wer nebenbei noch arbeiten muss, ist auf flexiblere Studienzeiten angewiesen. E-Learning-Module, das sind computerbasierte Lehreinheiten, könnten dann den Zahn der Zeit treffen. Ihr großes Plus, die Unabhängigkeit von Zeit und Raum, wäre dann ein entscheidendes Argument gegenüber traditionellen Vorlesungen.

Diese Prognose stützt Elmar Schulz, Referatsleiter E-Learning bei der Hochschulrektorenkonferenz (HRK): „Wenn die Studenten ihre Zeit effektiver managen müssen, könnten Vorlesungen auch durch die zeitlich flexibleren E-Learning-Angebote abgedeckt werden.“

Die Virtualisierung der Bildung steckt bei weitem nicht mehr in den Kinderschuhen. Das Bundesbildungsministerium hat diesen Weg schon früh beschritten und gefördert – durch Projekte wie „Neue Medien in der Bildung“ (310 Millionen Euro bis 2004) und „virtuelle Fachhochschule“ (22 Millionen Euro bis 2004). Hinzukommen Förderprogramme der Länder: Baden-Württemberg beispielsweise spendierte der „virtuellen Hochschule“ 25 Millionen Euro für fünf Jahre. So haben sich neben dem reinen Fernstudienangebot der Fernuniversität Hagen, das hauptsächlich Berufstätige und ältere Altersgruppen anspricht, mittlerweile 78 Fernstudienangebote an den traditionellen Hochschulen entwickelt. Auch etliche private Fernhochschulen buhlen um die Gunst der Studenten und reiben sich beim Thema Studiengebühren bereits erwartungsvoll die Hände.

Unabhängig von der weiteren Entwicklung bei den Studiengebühren könnte das Thema einen Bedeutungsschub erfahren, besonders im Hinblick auf die vom Bildungsministerium geforderte Profilbildung. „Wenn sich der Wettbewerb zwischen den Hochschulen verschärft, werden diese ihre Kompetenzen auf wenige Lehrstühle konzentrieren und könnten die anderen Inhalte als elektronische Bausteine zukaufen“, prognostiziert Elmar Schulz von der HRK.

So breit wie das Feld der Studienangebote, so breit sind auch die Einsatzmöglichkeiten der elektronischen Lehre: Vom elektronischen Vollstudium bis zur Vorlesungsergänzung. In allen größeren Hochschulen spielt die elektronische Lehre heute eine Rolle und wird in so genannten Medienzentren in Abstimmung mit den Fachbereichen betreut und entwickelt. Vor allem ressourcenintensive Forschungsbereiche wie die Medizin bemessen dem Thema eine besondere Bedeutung. Versuche und Fälle der medizinischen Praxis lassen sich kosten- und zeitsparender am Computer nachvollziehen und wiederholen. Beim Docs-n’-Drugs-Projekt der Universität Ulm trainieren Medizinstudenten schon vom ersten Semester an die Falldiagnose am virtuellen Patienten. Einen Ersatz für die Praxis an echten Patienten sieht Harald Traue, der betreuende Medizinprofessor, jedoch nicht. „Der Vorteil liegt in der Überwindung organisatorischer Zwänge. Wir können nicht zu jeder Vorlesung echte Patienten mitbringen und dann reihum die Diagnose stellen.“

An der Universität St. Gallen, einem Vorreiter beim Thema E-Learning, ist das mediengestützte Selbststudium bereits zu einem Viertel fest in den Aufbau des Studiums eingeplant. Dieter Euler, Professor für Wirtschaftspädagogik, sieht diese Entwicklung auch auf deutsche Studenten zukommen. „Die Präsenzveranstaltungen in den Universitäten werden abnehmen.“ Die Zukunft hängt für ihn allerdings auch an der Definition des Themas. „E-Learning sollte einen didaktischen Mehrwert bieten, der über das hinausgeht, was traditionelle Unis bieten.“

Andere stehen der Migration der Lehre grundsätzlich skeptisch gegenüber. Für Nele Hirsch vom freien Zusammenschluss von Studentenschaften (fzs) dürfen Studiengebühren nicht einmal als Hypothese für weitere Überlegungen herhalten. „Für mich stellt sich im Zusammenhang mit E-Learning die Frage, was denn ein Studium künftig überhaupt noch sein soll.“ Wissenschaftliche Diskurse und Gruppenarbeiten können für die Studentin nur in Präsenzveranstaltungen geleistet werden. „Ein Studium besteht schließlich nicht nur aus Input, soziale Komponenten spielen auch eine wesentliche Rolle.“ Sie fürchtet hinter Bestrebungen, einzelne Module hochschulübergreifend online anzubieten, das Kalkül, „langfristig Professorenstellen abzubauen“, und sieht die „Freiheit der Lehre in akuter Gefahr.“

JOCHEN SETZER