McJesus, Inc.

In seiner Art der Säkularisierung unterscheidet sich Amerika fundamental von Europa. Doch jetzt sind die USA dabei, ihren Pfad des Glaubenspluralismus zu verlassen

In den USA herrscht marktwirtschaftliche Konkurrenz, mit der Gläubige wie Kunden geworben werden

Säkulare Europäer reiben sich verwundert die Augen, in welche Götter- und Geisterwelt sie hineingeraten sind. Hier der Fanatismus islamistischer Prediger und Attentäter, dort der Präsident einer Weltmacht als wiedergeborener Christ. Hat der große Religionssoziologe Max Weber nicht vorhergesagt, die Frömmigkeit werde sich mäßigen, wenn die Welt voll im Griff der kapitalistischen Moderne sei?

„Die rapide Europäisierung drängt heute die kirchliche Durchdringung des ganzen Lebens, die dem genuinen ‚Amerikanismus‘ spezifisch war, überall zurück“, schrieb Weber vor hundert Jahren. Er schätzte, ein organisiertes, hierarchisches Kirchenwesen werde sich gegen das horizontal-egalitäre Sektenwesen durchsetzen. Offenbar haben die USA einen anderen Pfad eingeschlagen. Und dieses Muster scheint sich global auszubreiten, während Westeuropa den Sonderweg beschreitet.

Um die These von den „zwei Säkularisierungen“ und der Amerikanisierung der Religionswelt zu begründen, muss man etwas ausholen: Zu dem seit dem 18. Jahrhundert laufenden Prozess der Säkularisierung gehören landläufig drei Elemente: die Trennung von Staat und Kirche (allgemeiner: von Religion und Politik), zweitens die Verdrängung religiöser Weltbilder und Symbole aus dem öffentlichen Raum und drittens der Rückgang der Volksfrömmigkeit.

So hoch die amerikanischen Verfassungsväter die Trennmauer zwischen jeder einzelnen Religion und der staatlichen Sphäre gezogen haben, so wenig ließ sich die amerikanische Gesellschaft vom europäischen Trend zur Profanierung und Entchristlichung des privaten und öffentlichen Lebens anstecken. Während es in vielen Gesellschaften Europas zu einer Säkularisierung im umfassenden Sinne kam, hielt sich die Ausübung der zahlreichen Glaubensüberzeugungen in den Vereinigten Staaten auf hohem Niveau. Neutralität des Staates bedeutet also nicht zwangsläufig Verdrängung der Religion aus der public sphere, auch nicht deren Entpolitisierung. Die Bürger der USA betätigten sich über Jahrhunderte hinweg religiös, gerade weil die US-Verfassung die Etablierung einer Kirche als Staatskirche und einer Religion als Staatsreligion von vornherein ausschloss. Deshalb konnte das öffentliche Leben jenseits des Atlantiks weit stärker religiös geprägt bleiben als in der Alten Welt.

Hieran aktualisiert sich die klassische Frage politischer Theorie: Wie reguliert man, nunmehr weltweit, religiösen Pluralismus – und wer ist dafür zuständig? Grundsätzlich kann man zwei Argumentationslinien unterscheiden, eine politisch-staatliche und eine marktwirtschaftliche. Die erste beschreibt einen Gedankengang von Thomas Hobbes zu Max Weber und Carl Schmitt und reklamiert für die Herbeiführung friedlicher Koexistenz rivalisierender Religionsgemeinschaften (mit ihren stets exklusiven und konträren Wahrheitsansprüchen) die Alleinzuständigkeit politischer Ordnungsmächte, das heißt: das staatliche Gewaltmonopol auf der Grundlage des Rechtsstaats.

Die zweite vertraut auf den friedlichen Wettbewerb im Rahmen eines durch ebendiese Konkurrenz garantierten kulturellen Pluralismus. Regulator möglicher Konflikte sind nicht der hobbesianische Staat und die von ihm gestiftete Kohabitation, sondern der Markt und die auf ihm getätigten Nutzenkalküle der Individuen. In den USA ist persönliche Frömmigkeit mit den Usancen der freien kapitalistischen Marktwirtschaft vollständig kompatibel, Religionsgemeinschaften gerieren sich oft wie kapitalistische Unternehmen. Wirtschaftlicher Erfolg gilt, nicht nur in den Sparten des Protestantismus, als bester Beweis, von Gott auserkoren und des ewigen Lebens würdig zu sein.

Dem kam die früh auf Wettbewerb getrimmte Religionsstruktur entgegen: Sekten und Denominationen können weder im Prinzip noch in der Praxis über ihre Gläubigen verfügen, sie müssen stets um sie werben. Gläubige werden als autonome und eigensinnige Individuen angesprochen, die aus eigener Gewissensentscheidung zu ihrem Bekenntnis gelangen, auch wenn sie sich am Ende von ihren biografischen Wurzeln und sozialen Milieus nicht weit entfernen. Bei aller Vielfalt stimmen so gut wie alle amerikanische Gläubigen (und anders als der Vatikan auch die US-Katholiken) in der Affirmation des kapitalistischen Marktes überein. Wenn Gläubige somit als Konsumenten oder Kunden angesprochen werden, herrscht folglich auch überall Mission, die freilich nicht mit Zwang vorgehen kann, sondern „persuasiv“ auftreten muss – wie Handelsvertreter, die ein Produkt zum Kauf anbieten.

Aus dieser Erfahrung heraus hat ein Nachfolger Max Webers, Peter Berger, den europäischen Kirchen die Umwandlung in eine McJesus, Inc., eine Art „Nachfragediakonie“ angeraten. Das würde bedeuten: Religionen überzeugen nicht als mehr oder weniger etablierte Staats- und Landeskirchen, sondern durch das täglich neu zu generierende Engagement und die situative Überzeugungskraft der Glaubensgemeinschaften. Religiöse Gemeinschaften können in der Weltgesellschaft nicht länger selbstevidente Wahrheiten in ihren jeweiligen kulturellen Kontexten verkünden, sie stehen mit anderen Wahrheitsansprüchen in einem Wettbewerb, im ökonomischen Sinne des Wortes. Einerseits werden ererbte religiöse Kollektividentitäten durch individuelle Religionswahl und -ausübung unterminiert, andererseits erlaubt die Globalisierung die Rekonstruktion und Wiederbelebung partikularer, in Sonderheit religiöser Wir-Gefühle, die nun aus einem erweiterten Angebot schöpfen können.

Europa baut auf das staatliche Gewaltmonopol, das den religiösen Pluralismus rechtlich reguliert

Auf diesem Weg erscheint die Inklusion von Muslimen besser möglich als in den Quasistaatskirchensystemen in Europa, und gerade diese Aussicht stachelt den Furor islamischer Fundamentalisten an. Verschiedene Anzeichen deuten aber darauf hin, dass nun auch die USA den pluralistischen Weg verlassen. Zum einen geht die von Präsident Bush favorisierte Sozial- und Bildungspolitik hart an die Grenze der amerikanischen Verfassung, indem „glaubensbasierte Initiativen“ Unterricht und Wohlfahrt übernehmen und dabei offen religiöse Propaganda machen. Zum anderen gibt es in Bushs Elektorat und Entourage nicht wenige „christliche Zionisten“, die den Religionsfrieden aufkündigen, indem sie die offene, kreuzzugartige Auseinandersetzung mit dem Islam und die Bekehrung der Juden propagieren und die Außenpolitik generell dem Ziel der Re-Christianisierung unterwerfen.

Der fundamentalistische Protestantismus ist in den Sog einer extremistischen Häresie geraten, deren Neigung zu Manipulation und Politisierung nicht nur Agnostikern Sorge bereitet, sondern auch Gläubige aller Konfessionen beunruhigen muss. Ähnlich wie im islamischen Fundamentalismus wird Religion für weltlich-reaktionäre Zielsetzungen missbraucht. Europa muss sich also nicht „antireligiös“ betätigen. Es muss gerade im Namen seiner religiös-politischen Tradition den Kampf gegen die autoritären Dunkelmänner aufnehmen. CLAUS LEGGEWIE