Techniken der Regulierung

Todesraten, Krankheiten, Geburtenraten: Wie wird das Leben selbst regiert? In bislang unveröffentlichten Vorlesungen entwickelte Michel Foucault seine Machttheorie weiter

VON MARK TERKESSIDIS

Der meistzitierte Denker in den Geisteswissenschaften ist dieser Tage Michel Foucault. Dass er das einmal werden würde, das dürfte Foucault am 11. Januar 1978 bereits gewusst haben; dem Tag, an dem er eine zweisemestrige Vortragsreihe zum Thema „Gouvernementalität“ begann. Denn zu der Zeit hatte er Jean-Paul Sartre in seiner Rolle als wichtigster Intellektueller Frankreichs längst abgelöst – und das war, wie sein Biograf James Miller überzeugend gezeigt hat, stets das große strategische Ziel in Foucaults Werdegang.

So konnte Foucault damals im Allerheiligsten des französischen intellektuellen Lebens, dem Collège de France, mit einigem Selbstbewusstsein darangehen, das eigene Denken zu revidieren, umzuarbeiten und neu zu ordnen. Die Vorlesungen, die jetzt erschienen sind, waren bislang unveröffentlicht. Zwar wusste man, dass sich Foucault in seinen späten Jahren mit dem Problem befasst hatte, wie eine Bevölkerung regiert wird, aber wie systematisch er darangegangen war, seine früheren Erkenntnisse neu zu strukturieren, das wird erst deutlich, seitdem die Vorlesungen nach und nach erschienen.

Diese Vorlesungen sind keine leichte und – im Gegensatz zu Foucaults Büchern – auch keine schöne Lektüre. Hier wimmelt es vor angedeuteten und nicht wirklich weitergeführten Gedanken und schlichten Sackgassen, in denen ganze Denkzüge einfach verschwinden. Zudem verwendet Foucault Aufzählungen ziemlich inflationär, sodass man vor lauter „erstens“ und „zweitens“ manchmal die Orientierung verliert.

Was die Lektüre trotzdem zu einem Erlebnis macht, ist neben den neuen Erkenntnissen auch die Tatsache, dass man hier Foucault bei der mühsamen Entwicklung der Theorie zuschauen kann – und das ist nicht zuletzt für diejenigen interessant, die auf die eine oder andere Weise mit seinen Gedanken selbst arbeiten.

Worum geht es? Die Vorlesungen bewegen sich in jenem späten Arbeitsbereich, den Foucault „Macht über das Leben“ nannte. Zuvor, 1975, war sein Werk über die „Disziplin“ erschienen – „Überwachen und Strafen“. Dort hatte er einen Machttypus vorgestellt, der seit dem 18. Jahrhundert in so genannten Einschließungsmilieus, also in Schulen, Fabriken oder auch Gefängnissen, die Körper der Menschen unter Androhung von Strafe in ganz bestimmte Verhaltensschemata hineinpresste. Schon ein Jahr später begann Foucault, diese Verallgemeinerung der „Disziplinargesellschaft“ zu revidieren. Plötzlich beschrieb er eine neue Art von Machteffekten – eine Machttechnik, mit welcher der Staat nicht nur Zugriff auf die Körper erhielt, sondern auf das Leben selbst.

Schon seit ihrer Entstehung, aber äußerst massiv im 19. Jahrhundert, begannen die europäischen Staaten, regulierenden Einfluss auf die Bevölkerung zu nehmen. Die Verwaltung wollte die Todesrate senken, Krankheiten in den Griff bekommen, die Geburtenrate stimulieren, das Leben verlängern – kurz: die Bevölkerung biologisch normalisieren. Strategischer Eingriffsort war die Sexualität – deshalb hieß das Buch, in dem diese neuen Gedanken vorgestellt wurden, „Sexualität und Wahrheit“. Gleichzeitig hielt Foucault 1976 seine vielleicht beste Vorlesung am Collège des France zu diesem Thema: „Zur Verteidigung der Gesellschaft“, in der er unter anderem eine weitere Facette der „Macht über das Leben“ entfaltete – den Rassismus.

1977 nimmt Foucault sein Sabbatjahr und 1978 setzt er mit der vorliegenden Vorlesung bei seinen Ausführungen von 1976 wieder an. Im Zentrum seiner Untersuchung, wie das Leben selbst regiert wird, steht hier der Begriff der „Sicherheit“. Das war beeinflusst von einem aktuellen Fall. Foucault hatte sich Ende 1977 gegen die Auslieferung des RAF-Anwalts Klaus Croissant nach Deutschland engagiert. Obwohl er die Politik der RAF strikt ablehnte, kritisierte er doch gleichzeitig die Vorgehensweise der deutschen Regierung, die bekanntlich unter dem Titel der „inneren Sicherheit“ firmierte.

In der Vorlesung grenzt Foucault die Technik der Sicherheit hauptsächlich in drei Punkten von der Disziplin ab. Zunächst ist die Disziplin zentripetal, die Sicherheit aber zentrifugal. Während mit der ersten Technik ein Raum isoliert, eingeschlossen und überwacht wird, tendiert die Sicherheit dazu, sich auszudehnen – sie zieht immer weiträumigere Kreise. Gleichzeitig besitzt die Disziplin eine Regelungswut, die nichts entkommen lässt; das Prinzip der Sicherheit jedoch besteht darin, eine gewisse Form des „Laisser-faire“ zu etablieren.

In den Dispositiven der Sicherheit, meint Foucault, soll der Punkt erfasst werden, „an dem die Dinge sich ereignen, seien sie nun wünschenswert oder nicht. Das heißt, man versucht, sich auf der Ebene ihrer Natur mit ihnen zu befassen.“

Den Vorgängen in der Gesellschaft, oder besser: in der Bevölkerung, wird also weder ein Gesetz auferlegt, das unterbindet, das Nein sagt, noch wird wie bei der Disziplin ein bestimmtes Verhalten produziert und als verbindlich vorgeschrieben. Die Sicherheitstechnik versucht, die Phänomene in akzeptablen Schranken zu halten. Dabei geht es aber auch nicht primär darum, eine Grenze festzulegen, sondern „vor allem und im Wesentlichen darum, Zirkulation zuzulassen, zu gewährleisten, sicherzustellen: Zirkulation von Leuten, Zirkulation von Waren, Zirkulation von Luft etc.“

In der Vorlesung wird diese Sicherheitstechnik nun vom 16. Jahrhundert ausgehend historisch hergeleitet – als Ursprung betrachtet Foucault das Verständnis des Pastors als „Hirte“, der eine „Herde“ führt, also in Ansatzpunkten bereits eine Bevölkerung reguliert. Das liest sich alles höchstinteressant und anregend.

Allerdings war Foucault stets ein Denker, der strategisch vorging, um die eigenen Gedanken in ein besseres Licht zu rücken. So konstruiert er gerne Brüche und Diskontinuitäten, wo eigentlich keine sind. In diesem Fall behauptet er, dass das moderne politische Prinzip der Souveränität sich bloß auf das Territorium bezogen habe, während das Neue an den Sicherheitstechniken der „Regierung“ sei, dass ihr Ziel die Bevölkerung darstelle.

Damit verkürzt er die Praxis der Souveränität mutwillig – denn ohne Souveränität, also ohne die Einrichtung einer direkten Beziehung zwischen dem König und jedem Einzelnen seiner Untertanen, hätte es überhaupt keine Vorstellung von einer zusammenhängenden Bevölkerung geben können.

Abgesehen jedoch von solch durchaus durchschaubaren Winkelzügen sind diese 500 Seiten ein pralles Kompendium – vor allem zum Verständnis des Neoliberalismus, der damals zweifellos bereits in der Luft lag.

Michel Foucault: „Geschichte der Gouvernementalität I. Sicherheit, Territorium, Bevölkerung“. Aus dem Französischen von Claudia Brede-Konersmann, 500 Seiten, 38 Euro