Mit entwaffnender Offenheit

Eindrücke, die nicht wieder aus dem Kopf wollen: Die Reporterin Carolin Emcke fragt, wie von Krieg und Gewalt adäquat zu berichten ist – „Von den Kriegen“

Bruno Snell ist der Name eines vergessenen Gelehrten. Er war ein bedeutender Altphilologe in Hamburg, als es dort noch eine Universität von Rang gab. In einem seiner schönsten Aufsätze kann man nachzulesen, dass Historiker der ursprünglichen Bedeutung des griechischen Wortes nach „Augenzeugen“ sind. Sie wurden vor ein Gericht zitiert, gaben ihre Aussagen zu Protokoll und beglaubigten das Gesagte damit, dass sie selbst gesehen hatten, wovon Zeugnis abzulegen war. Solche Zeugen, die auf Informationen aus zweiter Hand verzichten, nannte man im alten Hellas Historiker. Sie waren unabdingbar für eine gerechte Urteilsfindung.

Eine solche Historikerin im archaischen Sinne ist Carolin Emcke. Sie arbeitet im Auslandsressort des Spiegel und bereist als Reporterin die Krisengebiete der Welt. Von dort, also aus Situationen, die entweder noch gewalttätig oder schon kriegerisch sind, berichtet sie mit der Autorität einer Augenzeugin, idealerweise also unparteiisch und unbeteiligt. Allerdings protokolliert Emcke ihre Wahrnehmungen nicht vor einem Gericht, sondern für Leser. Ihr Medium ist also nicht das gesprochene, sondern das geschriebene Wort. Und genau genommen artikuliert sie sich – wie die meisten Zeitungsjournalisten der Gegenwart – in einer Sprache, die immer von Bildern begleitet wird. In Verbindung mit den Texten sollen diese Fotografien auch den Leser zum Zeugen der dargestellten Wirklichkeiten machen. Das Ganze suggeriert, wir selbst seien der Sache ansichtig geworden.

Wie fragwürdig dieses Pathos der Augenzeugenschaft ist, das vor allem im Genre der vor Ort recherchierten Reportage beansprucht wird, dürfte hinlänglich bekannt sein. Tatsächlich gehört ein zumeist vage bleibender Manipulationsverdacht ja zu unserem eingeübten Umgang mit zeitgenössischen Medienöffentlichkeiten. Darüber ist sich die Journalistin Emcke selbstverständlich im Klaren, arbeitet sie doch als eine reflektierte, richtiger gesagt: zur Reflexion genötigte Vertreterin ihrer Profession. Glücklicherweise finanziert sie ihre selbstkritischen Überlegungen zum Beruf des Reporters aber nicht mit der abgegriffenen Währung, die häufig zirkuliert, wenn Medien sich auf Selbstbeobachtungen verlegen.

Auch die abgebrühten Zynismen medienwissenschaftlicher Theoriebildung bleiben bei ihr ausgespart. Weil Emcke im Kosovo, Libanon oder im Irak, in Kolumbien, Pakistan oder Afghanistan, in Rumänien oder Nicaragua Dinge zu Gesicht bekam, die ihr nicht aus dem Kopf wollten, ist es der Berichterstatterin zur Gewohnheit geworden, sich nach der Rückkehr von ihren Reisen Rechenschaft von dem abzulegen, was sie gesehen hat. In diesen jetzt als Buch veröffentlichten Briefen an Freunde, die sicherlich auch die kathartische Funktion hatten, das Erlebte wieder auf Distanz zu bringen, lässt sie ihre subjektiven Eindrücke und Erfahrungen Revue passieren. Und sie fragt sich, noch ganz im anschaulichen Kontakt mit ihren zum Teil grauenhaften Widerfahrnissen, wie eigentlich von Krieg und Gewalt situationsadäquat zu berichten sei.

Greifen wir ein Beispiel heraus: Im Oktober 2000 trifft Emcke einen jungen Mann im Süden des Libanon, der als Mitglied der Hisbollah elf Jahre in einem gerade erst von der israelischen Armee verlassenen Gefängnis verbracht hat – davon die ersten sechs Monate auf dem Steinfußboden einer winzigen Zelle, 1,40 mal 0,80 Meter groß, ohne Fenster, ohne Toilette, nur mit einem Loch in der Decke. Beim Anblick dieses grässlichen Verlieses und eingedenk der Qualen, die er dort erlitten haben wird, so gesteht die Autorin mit entwaffnender Offenheit, habe sie sofort nach Gründen gesucht, die Geschichte des Mannes anzuzweifeln. „Schlimmer noch, ich suchte nach Gründen, seine Behandlung zu rechtfertigen.“ Es war ja nicht auszuschließen, dass der Mann als Propagandist für die Hisbollah auftrat.

Derart ungeschützt und riskant, derart skeptisch gegen sich selbst und um möglichst rückhaltlose Aufrichtigkeit bemüht, spricht gewöhnlich niemand über sein Metier. Emcke hingegen lässt uns ihre Abwehrreaktionen und Verleugnungsstrategien nachvollziehen, bringt die Zweifel und Bedenken zur Sprache, die eine Arbeit begleiten, in der man den eigenen Urteilen und Vorurteilen auf die Schliche kommen muss, bevor sie das vermeintlich unbestechliche Zeugnis der Sinne einfärben. Ihre befremdenden und berührenden, manchmal impressionistischen, dann wieder streng analytischen, nie larmoyanten und im Kern höchst engagierten Briefe finden sich im Grunde von einer einzigen Frage beunruhigt.

Emcke will sich und ihren Adressaten Klarheit darüber verschaffen, was gesehen und empfunden, gedacht und geschrieben werden muss, soll ein getreues Zeugnis jener Gewalt entstehen, die ihrer Natur nach nicht spricht. Deshalb hat sie ein ebenso welthaltiges wie durchdachtes Buch herausgebracht, eine Pflichtlektüre nicht nur für alle Zeitungsleser. MARTIN BAUER

Carolin Emcke: „Von den Kriegen. Briefe an Freunde“. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2004, 315 Seiten, 18,90 Euro