Das MoMA macht modern

Triumph der New York School? Mit Kopien bekannter Meisterwerke widmet sich eine Ausstellung im Kunsthaus Dresden der einseitigen amerikanischen Kunstgeschichtsschreibung im 20. Jahrhundert. Es ist auch Arbeit am Mythos MoMA

Der Abstrakte Expressionismus stand im beginnenden Kalten Krieg für die Freiheit und Liberalität der westlichen Welt

VON ROBERT HODONYI

Das Kalkül der charmanten Irreführung scheint aufzugehen. Nachdem auch das für bürokratische und seriöse Informationsverbreitung bekannte Dresdner Amtsblatt darauf hingewiesen hatte, dass im Kunsthaus Dresden, der städtischen Galerie für Gegenwartskunst, bis zum 21. November eine internationale Ausstellung mit Bildern und Skulpturen der wichtigsten Protagonisten der europäischen und amerikanischen Avantgarde von Paul Cézanne über Barnett Newman bis zu Joseph Kosuth zu sehen sei, entwickelt sich die „International Exhibition of Modern Art und The Museum of American Art“ zum Publikumsmagneten. Insbesondere viele Schulklassen nutzen die Gelegenheit einer Führung durch die Doppelausstellung, wie Christiane Mennicke, Leiterin des Kunsthauses, auf Anfrage mitteilte.

Dort werden jedoch ganz andere Ziele verfolgt, als in der lokalen Presse und auf den zahlreichen Plakaten für die Ausstellung angekündigt: Die Besucher bekommen kein einziges Original zu Gesicht. Die 46 Gemälde und Skulpturen in den oberen Ausstellungsräumen stammen von anonymen Künstlern aus dem Umfeld der New Yorker Non-Profit-Kollektivs Salon du Fleurus. Sie präsentieren unter der Überschrift „International Exhibition of Modern Art“ Kopien kanonisierter Bilder und Skulpturen, um die Kunstgeschichtsschreibung der klassischen Moderne zu hinterfragen.

Die Arbeiten in der „International Exhibition“ gehen von Werken aus, die in der legendären Armory Show in New York, Chicago und Boston gezeigt wurden. Im Jahr 1913 konnte sich hier erstmals ein breites amerikanisches Publikum mit der avantgardistischen Kunst Europas vertraut machen. Die Schau mit mehr als 500 Bildern, unter anderem von Henri Matisse, Constantin Brancusi, Edvard Munch und Marcel Duchamp, geriet zu einem bis dahin ungekannten gesellschaftlichen Spektakel. Die Künstler wurden gefeiert und gleichzeitig verspottet. Die Armory Show gilt heute als die erste große Ausstellung des 20. Jahrhunderts, die ein Medienereignis wurde und damit die Funktion des modernen Ausstellungswesens, man denke an das „MoMa in Berlin“, vorwegnahm: „Die Show selbst war das Thema, die Presseberichterstattung war beispiellos, die Publikumsreaktion begeistert, die Besucherzahlen schossen in die Höhe, und die Armory Show ging als mythische Ursache für den Wandel der amerikanischen Kunst in die Geschichte ein“, schreibt der Kunsthistoriker Milton Brown. Die Armory Show fungierte jedoch nicht nur als ein Medienereignis, sondern stellte auch gleichzeitig den Beginn für die Institutionalisierung der modernen Kunst in den USA dar.

Die Gründung des Museum of Modern Art im Jahr 1929 durch die drei wohlhabenden Sammlerinnen Lillie P. Bliss, Mary Quinn Sullivan und Abby Rockefeller ist unmittelbarer Ausdruck dieser Bewegung. Durch Parallelen und Bezüge wird die Arbeitsweise und Geschichte des MoMA, seine eigene Erzählung der Moderne, im Kunsthaus beleuchtet. Man braucht keine Fachkenntnisse, um festzustellen, dass die Zuordnung von Jahreszahlen offensichtlich keiner Chronologie folgt. In der „International Exhibition“, die auch auf Kopien zahlreicher in Berlin gezeigter MoMA-Bilder beruht, haben alle Arbeiten ahistorische Datierungen. Beispielsweise wird der „Tanz I“ von Henri Matisse auf 1990, Edvard Munchs „Madonna“ auf 2002 und Jasper Johns’ „Flagge“ auf 1930 festgelegt. Die Abweichung vom historischen Narrativ sorgt für Verunsicherung. Wann beginnt moderne Kunst, und wo hört sie auf? Welche Rolle spielen Institutionen bei ihrer Durchsetzung?

Diesen Fragen widmet sich im Erdgeschoss des Kunsthauses der zweite Teil der Ausstellung „The Museum of American Art“. Dabei steht die Herausbildung der amerikanischen Avantgarde im Vordergrund, der Siegeszug der New York School nach 1945, die mit den Namen Robert Motherwell, Willem de Kooning oder Jackson Pollock verbunden ist. In New York lassen sich auch die treibenden Kräfte lokalisieren, die eine zentrale Rolle spielten, als die Stadt zum Zentrum der modernen Kunstwelt erklärt wurde. An einem fiktiven Modell des „Museum of Modern Art“ wird die kunsthistorische Argumentation des MoMA nachvollziehbar, die mit der späteren offensiven Vermittlung amerikanischer Kunst nach Europa zusammenhing: die spezifische Deutung der Moderne durch Alfred H. Barr jun. (1902 bis 1981), Gründungsdirektor des Museum of Modern Art, und durch die spätere MoMA-Mitarbeiterin und Kuratorin Dorothy C. Miller (1904 bis 2003).

Barrs Interpretation der Moderne, aufgezeichnet unter anderem in seinem berühmten „Diagram of stylistic evolution from 1890 until 1935“, entsprach einem evolutionären Entwicklungsgedanken, der vom Impressionismus ausgehend, einen engen Zusammenhang von Kubismus, Konstruktivismus und Suprematismus auf der einen Seite und von Fauvismus, Expressionismus sowie Surrealismus auf der anderen Seite dokumentierte. Weitergedacht stand am Ende des Entwicklungsstrangs der Abstrakte Expressionismus amerikanischer Künstler. New York begann, gestützt auf diese Argumentation und Rhetorik, Paris als wichtigstes weltweites Kunstzentrum abzulösen. An einem differenzierten Blick auf die europäische Nachkriegsmoderne war den entscheidenden Protagonisten der damaligen amerikanischen Kunstszene nicht mehr gelegen. Der Abstrakte Expressionismus konnte dadurch im Zuge des beginnenden Kalten Krieges, obwohl im eigenen Land keinesfalls unumstritten, für die westliche Welt zum hegemonialen Modell für progressive Kunst, Freiheit und Liberalität avancieren, so die Hauptthese in Serge Guilbauts 1983 erschienenem Buch „Wie New York die Idee der modernen Kunst gestohlen hat“.

Große Kunstausstellungen in Europa hatten bei dem Transfer der amerikanischen Moderne eine wichtige Funktion. In erster Linie der nichtgegenständlichen Kunst gewidmet, waren sie dem restriktiven Sozialistischen Realismus des Ostblocks entgegengesetzt. Sie sollten die ungeheure (künstlerische) Freiheit Amerikas demonstrieren und in Deutschland zur Re-education beitragen. Neben dem Modell des „Museum of Modern Art“ sind daher im gleichen Raum auch Abbildungen der Kataloge von vier wichtigen Ausstellungen aus den Zeiten des frühen Ost-West-Konflikts abgebildet, die von Dorothy Miller kuratiert wurden. So etwa „Moderne Kunst in den USA“ (Frankfurt 1956) und „Die neue amerikanische Malerei“ (Berlin 1958). Den enormen Einfluss solcher Ausstellungen auf die westdeutsche Kunstentwicklung unterstreicht auch Martin Damus in seinem Buch „Kunst in der BRD. 1945–1990“ von 1995. „Um die gleiche Zeit“, schreibt Damus, „begann sich, aus heutiger Sicht, auch die zukünftige Entwicklung der Kunst in Westdeutschland abzuzeichnen. Die Ausstellung ‚Gegenstandslose Malerei in Amerika‘, die im Frühjahr 1948 in Karlsruhe und anschließend in Düsseldorf, Mannheim, München, Stuttgart gezeigt wurde, wirkt heute programmatisch. Sie war vorher in Paris und Zürich und nachher in Amsterdam und London zu sehen.“ Auf der documenta II im Jahr 1959 fand diese Entwicklung ihre Fortsetzung mit der Präsentation von Werken der New York School, insbesondere von Jackson Pollock, dessen radikale Bildbearbeitung unter anderem den jungen Gerhard Richter stark beeindruckte.

Eines verhindert die Ausstellung im Kunsthaus sicher: das reine Anstarren von unumstrittenen „Meisterwerken“. Vielmehr stellt jedes Bild in der „International Exhibition“ einen komplexen Verweis zum jeweiligen Original her und muss daher im Prinzip einzeln befragt, kontextualisiert, lokalisiert und datiert werden. Viel Arbeit, könnte man sagen.

Bis 21. November, Kunsthaus Dresden; ab dem 16. Dezember wird die Sammlung in Berlin, Frankfurter Allee 91, ausgestellt