Shakespeare im Omelett

Heiner Goebbels begibt sich im Berliner Festspielhaus auf die Spuren von Elias Canetti und inspiziert mit seinem Stück „Erarijaritjaka“ dessen Motiv der Weltaneignung anhand von Aufzeichnugnen

VON BJÖRN GOTTSTEIN

Das Stück hat eigentlich gerade erst richtig angefangen, da nimmt Elias Canetti, die Hauptfigur, seinen Hut und geht. Und wäre da nicht die Videokamera, die dem Protagonisten aufmerksam, aber unaufdringlich folgt, dann wäre die Vorstellung wohl auch schon wieder vorbei. Natürlich darf man nicht allzu sehr darüber staunen, dass sich die Handlung nun außerhalb des Theaters fortsetzt. Denn sogar der leicht zu beeindruckende und ahnungslose Musikkritiker in der sechsten Reihe weiß, dass eine Videozuspielung heute zum Comme-il-faut der Theaterregie gehört.

Aber lächeln muss man doch, als Elias Canetti sich gemütlich durch Wilmersdorf chauffieren lässt, sich am Kurfürstendamm ein Mineralwasser besorgt und schließlich in eine, nämlich in seine Wohnung tritt. Man hatte sich gerade ein wenig angefreundet mit dem abgeklärten Grübler Canetti, der sich auf der Bühne des Berliner Festpielhauses selbstsicher zwischen den wenigen Requisiten bewegte: einem kniehohen Modellhaus, zwei hüfthohen, insektenähnlichen Robotern und den vier Musikern eines Streichquartetts. Hier hatte Canetti seinen Monolog ganz unvermittelt begonnen, hatte den Zauber der Musik beschworen und ihre Vorteile vor der Sprache erwogen. Nun aber sitzt er in seiner häuslichen Stube, erledigt die Post und bereitet sich ein Omelett. Er redet von Beiläufigem, dem Essen und der verhassten Zeitungslektüre, und erwägt, ob man zu Shakespeare wohl hätte „Relax!“ sagen können. Die Gestalt, die zuvor auf der Bühne agiert hatte, ist natürlich eine eher oberflächliche. Ja, man verliert sich sogar in den Erfindungen des Schriftstellers, als er sich für einen Moment in die Hauptfigur seines eigenen Romans, den Sinologen Peter Kien, verwandelt.

Das Stück, von dem die Rede ist, ist „Erarijaritjaka“ von Heiner Goebbels. Der Titel bedeutet „voller Verlangen nach etwas, was verloren gegangen ist“. Goebbels hat Notizen aus den über Jahrzehnte hinweg geführten Aufzeichnungen von Elias Canetti zu einem „Museum der Sätze“ zusammengestellt. Dem Habitus nach sind die Sentenzen kauzig, verschroben und ein wenig eigenbrötlerisch. Die Texte sind eher witzig als weise, zu privat, um als philosophisch, zu allgemein, um als literarisch zu gelten. „Erarijaritjaka“ ist Teil einer Werkgruppe, mit der Goebbels „das Motiv der Weltaneignung des Einzelnen anhand von Aufzeichnungen und Tagebucheintragungen“ inspiziert.

Nun ist Heiner Goebbels von Haus aus Komponist. Mit dem „Sogenannten linksradikalen Blasorchester“ und seiner Band „Cassiber“ versöhnte er in den Siebzigerjahren Punk und Neue Musik. Und mit einer Reihe von Hörspielen und opernähnlichen Werken hat er hernach einen illustren, gelegentlich geschmäcklerischen, aber eben eigenen Ton gefunden. Für „Erarijaritjaka“ nun hat Goebbels, von wenigen Takten abgesehen, keine eigene Musik komponiert, sondern Streichquartette des 20. Jahrhunderts zu einem Soundtrack kompiliert. Fast das gesamte Stück wird vom Mondriaan Quartet mit seinem weichen Streicherklang begleitet.

Dabei irritiert zunächst, dass die Werke oft ihrer Farbe und Stimmung halber Eingang ins Stück gefunden zu haben scheinen: das bedrohliche Rauschen eines Streichquartetts von John Oswald bauscht eine Szene dramatisch auf, die meditativen Klangschleifen von Giacinto Scelsi beschwören Innerlichkeit. Aber die Musik schafft eben auch Bedeutung und Kontext. Das introvertierte, gebetsartige achte Quartett von Dmitri Schostakowitsch, das „den Opfern des Faschismus“ gewidmet ist, stellt gleich zu Beginn einen zeit- und ideengeschichtlichen Hintergrund her, vor dem die Figur Canetti sich entfaltet. Und das Anti-Kriegs-Stück „Black Angel“ von George Crumb erinnert an den Terror, den Canetti als europäischer Jude in den Dreißigerjahren durchlebte. Und dann ist da noch eine ganz andere Musik: die Polyphonie der Gesten, die Durchführung der Themen, das Metrum der Szenenwechsel. Wie im deutschen Theater vielleicht sonst nur Christoph Marthaler, verfügt Goebbels über ein an der Musik geschultes Gespür für Rhythmus und Bewegung, das es ihm erlaubt, Gesten regelrecht zu komponieren. Der Vortrag einer über die Maßen strapazierten Textstelle wie das Dirigenten-Kapitel aus „Masse und Macht“ wird bei Goebbels selbst zu einem musikalischen Akt. Und natürlich wird auch die Pointe des gesamten Stückes exakt und elegant gesetzt, als der Protagonist unvermittelt ein Fenster seiner Wohnung öffnet und plötzlich aus der Leinwand heraus auf das Publikum blickt: Die per Video zugeschaltete Wohnung ist bloß eine Theaterwohnung hinter der Bühne gewesen.

Das schönste an dieser Produktion ist aber wohl, dass man der Person Canetti nahe kommt, ohne dass das Stück in dem Künstlerdramen eigenen Pathos erstickt. Das ist natürlich auch der eleganten Kameraführung von Bruno Deville und dem musikalisch und darstellerisch flexiblen Mondriaan Quartet zu verdanken. Über allem aber ragt André Wilms, der französische Schauspieler, der einst mit Kaurismäkis „Leben der Boheme“ berühmt wurde und der die Figur Canettis ohne Eitelkeit und Trief zum Leben erweckt.