Leben gibt es überall

Familie, das ist der Ort, an dem man landet, wenn es um die letzten Dinge geht. Eine Liebeserklärung an eine Fernsehserie, die einen grandiosen Familienroman mit der Rahmenhandlung in einem Beerdigungsinstitut verbindet: „Six Feet Under“

VON DIRK KNIPPHALS

Als ich mich zum ersten Mal bei „Six Feet Under“ einschaltete, einer dieser unverhofften Zapping-Glücksfälle dann und wann, feierten gerade drei Frauen mit Champagner im Fond einer Stretch-Limousine. Eine von ihnen hatte sich von ihrem Mann getrennt und stieß nun auf ihr neues Leben an. Im Überschwang kletterte sie durchs Schiebedach, um wie auf einer eingebildeten Titanic im Fahrtwind zu fliegen – was allerdings an einer niedrig angebrachten Ampel ein jähes Ende fand. Es gab ein furchtbares Geräusch, und bald darauf sah man sie mit zermatschtem Gesicht auf dem Leichenpräparationstisch der Fishers liegen, wobei sich die Kamera intensiv ihrer nach innen gedellten oberen Kopfhälfte widmete. Auch als ziemlich trainierter Rezipient dachte man sich da: Wow, die trauen sich aber was!

Es sind Szenen wie diese, die dieser Fernsehserie den Ruf einbrachten, makaber zu sein, aber auch von herbem Witz. Als vor einem halben Jahr die erste Staffel im deutschen Free-TV startete (auf Premiere war sie schon vorher zu sehen), wurden in den Vorabberichten solche dunklen Qualitäten hervorgehoben. Der Eindruck einer Comedy mit tiefschwarzem Humor wurde vermittelt. Von Siegfried Kracauer stammt der Satz, dass die typischen Motive unserer populären Filme anzeigen, wie unsere Gesellschaft sich zu sehen wünscht. Diesen Satz kann man auch ins Habituelle rutschen lassen. Aus dem, was als typisch für „Six Feet Under“ beschrieben wurde, lässt sich folgern: Unsere Gesellschaft will sich flott sehen, intelligent, respektlos, witzig, ironisch und auch so, dass ihr nichts heilig ist.

Nun trifft das alles tatsächlich auf diese Serie zu. Aber sie geht nicht darin auf. Inzwischen ist die dritte Staffel gerade angelaufen, die komplette zweite Staffel gibt es nun auf DVD zu kaufen (während aus den USA die bestürzende Nachricht zu hören ist, dass nach der fünften Staffel endgültig Schluss sein wird), und als Zwischenfazit lässt sich feststellen, dass die Serie Qualitäten hat, die auf einem zugegeben zunächst ganz uncoolen Gebiet liegen: Vor allem erzählt „Six Feet Under“ einen ebenso genau konstruierten wie berührenden Familienroman, der noch nicht mal sonderlich extravagant, dafür aber ziemlich wahrhaftig inszeniert ist.

Wie ging damals zum Beispiel die Folge mit dem zermatschtem Kopf weiter? So, dass alles Makabre sehr schnell herausgenommen war. Federico, damals noch Angestellter, inzwischen Teilhaber beim Beerdigungsunternehmen der Fishers, in dem die Serie spielt, hatte seine große Stunde. Mit handwerklichem Geschick machte er sich daran, das Gesicht der Frau zu rekonstruieren, sodass ihre Familie von ihr Abschied nehmen konnte. Der Präparationsraum im Keller ist der eine zentrale Ort der Serie, und selbstverständlich geht es bei allem auch um die Befriedigung unserer voyeuristischen Bedürfnisse in Bezug auf Beerdigungsinstitute. Mindestens gleichberechtigt aber ist der Saal im Erdgeschoss, in dem der Sarg zur Abschiednahme aufgebahrt wird. Wer als Zuschauer hoffnungsfroh ein Aufmischen der Familienserie durch experimentelle Splatterelemente erwartet, wird sich schnell mit durchweinten Taschentüchern konfrontiert sehen. Neben den direkten Umgang mit dem Körperlichen, der Leiche also, tritt ein ebenso direkter Umgang mit den Gefühlen.

Von hier aus bekommen die Todesfälle, die jede Episode am Anfang vorführt, einen dramaturgischen Sinn, der über makabre Schauwerte hinausgeht. Sie funktionieren wie ein Memento mori – als eine Erinnerung daran, wie schnell und wie beiläufig es mit dem Leben vorbei sein kann. Das allerdings keinesfalls in dem christlichen Sinn, sich die Vergeblichkeit des Lebens angesichts des Todes zu vergegenwärtigen. Im Gegenteil. Ein lebenszugewandter Polytheismus durchwirkt das Ganze. Wenn man denn „Six Feet Under“ auf eine Grundidee reduzieren wollte, dann müsste es die antike sein, den Tag zu fassen. Es geht hier darum, aus der Endlichkeit seiner Tage die Konsequenz zu ziehen, aus seinem Leben etwas zu machen.

Der geschickte dramaturgische Kniff ist nun, dass diese als B-Stränge präsentierten Beerdigungshandlungen mit dem Hauptstrang der Familienerzählung immer wieder kollidieren. Angesichts der Familie der Fishers zeigt die Serie, wie schwer es ist, ein Carpe Diem in die Tat umzusetzen. Keine der Figuren wird als so souverän gezeichnet, dass sie tatsächlich über ihr Leben verfügen könnte. In jeder Figur rumort etwas. Auch hier kann man die Kippfigur zwischen Schrägsein und Ernsthaftigkeit durchspielen. Eine verklemmte Mutter, ein älterer Sohn mit sexsüchtiger Freundin, ein schwuler jüngerer Sohn, eine Nachzüglerin, die im Zuge des Spätpubertierens immer an die falschen Typen gerät – leicht auszurechnen, was in einer deutschen Serie daraus geworden wäre: eine groteske Ansammlung schräger Vögel. Bei „Six Feet Under“ aber bleiben diese Figuren stets nachvollziehbar.

Ihre Probleme sind dabei keineswegs originell, aber interessant choreografiert. Anhand von Brenda, der Verlobten des älteren Sohnes Nate Fisher, zeichnete die Serie zwei Staffeln lang das Drama nach, 68er-Eltern zu haben. Wie in Deutschland, wo diese Motivlage ja auch immer beliebter wird, wird dabei an den Eltern kein gutes Haar gelassen. Aber zum wunderbar Austarierten von „Six Feet Under“ gehört, dass es nicht um Schuldzuschreibungen geht. Um vorschnelle Versöhnung auch nicht. Es ist Brendas eigene Sache, sich aus ihrer von psychologischen Experimenten geprägten Vergangenheit zu befreien. Keine schlichte Abrechnung mit 68. Vielmehr hat man das Gefühl, dass an die Stelle der propagierten Selbstverwirklichung der Wille getreten ist, genau zu registrieren, was der eigene Wunsch nach Selbstbestimmung bei anderen Menschen für Probleme aufwirft.

Überhaupt, die Selbstverwirklichung. Wie sie bei David Fisher, dem jüngeren Sohn, in neue Problemlagen kippt, hat schon etwas von höherer Ironie. Beinahe zwanzig Folgen brauchte er, um zu seinem Schwulsein zu stehen. Nun hat er es geschafft – um den Preis, dafür in zehrenden Beziehungsproblemen mit seinem Partner Keith Charles zu landen. In der gerade begonnenen dritten Staffel erleben wir die beiden beim Eheberater.

In der hübschesten Szene der heute Abend ausgestrahlten Episode wird David es nicht pünktlich zur Sitzung schaffen. Keith sitzt also allein da und wird von dem Therapeuten ermuntert, die Gelegenheit zu nutzen, um alles aufzuzählen, was ihn an David stört. Er tut es, stellt fest, dass er soeben die Probleme eines alten Ehepaars beschrieben hat, und sagt den Satz: „Ich dachte, schwul zu sein, hindert mich daran, meine Mutter zu vögeln, aber da lag ich wohl total schief.“ Auf dieser kippeligen Höhe sind viele Szenen angesiedelt. Jede Problemlösung bringt neue Probleme mit sich, und statt des großen Befreiungsdramas werden nur die kleinen Komödien und Tragödien eines emotionales Durchwurschtelns geboten.

Übers Ganze gesehen, funktioniert „Six Feet Under“ allerdings durchaus als Entwicklungsroman. Mit dem Tod des Vaters fing die Serie an (was für eine schöne, einleuchtende Idee übrigens, eine Serie rund um ein Bestattungsunternehmen mit dem Tod des Bestattungsunternehmers starten zu lassen!). Fortan müssen die Kinder und muss die Ehefrau emotional erwachsen werden. Für den älteren Sohn Nate bedeutet das, in die Fußstapfen des Vaters zu treten. Er war bereits vor der Familie in ein Loserleben in der Großstadt geflohen. Dann hat er die Lebensleistung seines Vaters (allerdings posthum) schätzen gelernt. Schon in den ersten Folgen der dritten Staffel ist allerdings absehbar, dass es auch nicht gelingen wird, gleichsam durch Entschluss ein so genanntes normales Familienleben zu führen.

Ruth Fisher, die Mutter, sagt einmal: „Wir alle sterben früher, als wir wollen. Also lass uns noch etwas Schönes machen. Damit wir etwas haben, worauf wir uns freuen können.“ Es war ein weiter Weg, bis diese zunächst in Familientraditionen wie eingefrorene Frau so einen Satz formulieren konnte. Auch auf die Gefahr, mit dieser Bemerkung vollkommen uncool zu erscheinen: Die Mutter ist die großartigste Figur von allen. Eine zunächst kalte, dann aber allmählich auftauende, wenn auch immer wieder mit Rückfällen erschreckende Mutter, überragend gespielt von der Schauspielerin Frances Conroy, die scheinbar nahtlos zwischen einer alten, sich aufopfernden Frau und einem jungem Backfisch hin und her schalten kann.

So zeichnet diese Serie im Ganzen das Drama einer Familie im Übergang. Familie funktioniert hier nicht mehr als Heimat, von der man fliehen muss oder in die man sich zurückziehen kann. Familie, das ist vielmehr der Ort, bei dem man unwillkürlich landet, wenn es um die letzten Dinge geht: Tod, Geburt, Liebe, Anerkennung. Von dieser Warte erscheint übrigens die Verbindung des Familienromans mit dem Beerdigungsinstitutsthema ganz und gar nicht zufällig. Und falls irgendwelche Archäologen der Gefühle sich einmal daranmachen sollten zu ergründen, was es mit den spezifischen Kommunikationssituationen auf sich hat, die wir als Familienstreit und als Beziehungsgespräch bezeichnen, sollten sie das Material, das diese Serie bereithält, nicht verschmähen.

Das wirklich Großartige an ihr ist aber erst aus einigem Abstand zu erkennen – wenn man nach dem Ende einer Episode den Fernseher ausschaltet und noch ein wenig auf die schwarz gewordene Mattscheibe schaut. Fernsehserien haben ja für die Zuschauer die Funktion, als heimatliche Inseln innerhalb des Fernsehprogramms zu dienen. Dass Alan Ball dies mit einer Serie gelingt, die in einem Beerdigungsinstitut spielt, das hat etwas bis ins Mark Tröstliches. Leben gibt es überall.

dienstags, 22.15 Uhr auf Vox