„Der Mord an van Gogh ist nur für Holland interessant“

Christoph Schlingensief wollte nie provozieren. Er glaubt aber, dass die Leute süchtig nach Provokation sind. Politikern und Medien in Deutschland wirft er vor, auf ein ähnlich „hartes Ereignis“ wie den Mord von Amsterdam zu gieren

INTERVIEW SUSANNE LANG

taz: Herr Schlingensief, Sie beschäftigen sich in Ihrer neuen Produktion mit der Lähmungs-Krankheit ALS und mit Nahtod-Erlebnissen. Hat der Provokateur aufgegeben?

Christoph Schlingensief: Haben Sie sich im Interviewpartner geirrt? Um Provokationen aufzugeben, müsste ich das Provozieren angefangen haben. Was mich an der Arbeit zu „Kunst und Gemüse“ provoziert hat, ist der Umstand, dass eine Krankheit wie die ALS nicht die notwendigen Forschungsgelder erhält, weil sich die Ergebnisse für die Pharmaindustrie nicht rechnen. Interessant ist sie offensichtlich nur aufgrund der Erkenntnis, dass die Haut von ALS-Kranken nicht altert. Die Industrie erhofft sich daraus Verbesserungen bei der Produktion von Hautcremes.

Das provoziert fürs Theater?

ALS provoziert Bilder. Ich habe gerade ein großes Bedürfnis, Bilder zuzulassen. Wenn man das schon wieder für Provokation hält, dann deshalb, weil wir nur noch aus Angst bestehen, die Bilder dafür aber nicht mehr erkennen können. Eine verselbstständigte Angst. Aufrufe im Sinne von „Tötet Herrn Sowieso“, wie ich sie früher verwendet habe, interessieren mich nicht mehr. Die Fehlbelichtungen, die Flashs, die uns heimsuchen, dafür umso mehr.

Was meinen Sie mit Flashs?

Ich komme ja vom Film, und die Anschläge vom 11. September waren wie ein greller Lichtblitz, der bis jetzt über allem liegt. Das ist den Terroristen gelungen, ist aber auch von den USA benutzt worden. Eine Überbelichtung, die eine ganze Reihe von Fehlbelichtungen nach sich gezogen hat.

Der Mord an dem niederländischen Filmemacher Theo van Gogh – auch eine dieser Fehlbelichtungen?

Das ist sie definitiv, weil die Meinungsfreiheit eines Grenzkünstlers auf den Fanatismus eines Irrläufers getroffen ist. Da gerät etwas komplett aus den Fugen. Eine Fehlbelichtung ist es aber auch in dem Sinne, dass Medien in Deutschland, auch Politiker, geradezu auf so etwas warten.

Auf so einen radikalen Provokateur?

Eher darauf, dass die Gesellschaft plötzlich mit so einem harten Ereignis konfrontiert ist, weil sich damit hervorragend arbeiten ließe. Wir sind ja mittlerweile, wie Sloterdijk es nennt, völlig durchimmunisiert. Staatsräson ist eine reine Vermarktungsstrategie.

Wir warten auf einen Mord? Das klingt zynisch.

Nein, ich spreche davon, dass noch jemand erregbar ist. Ich kenne Schlagzeilen und Fraktionsbeschlüsse, die sind zynischer. Ein anderes Beispiel: Herr Michael Moore. Der taucht öfter mal auf mit der Beweisführung: „Ich war da und habe Bush zugerufen: Grüße sie Herr Bush.“ Der sagt dann: „Suchen Sie sich eine gescheite Arbeit.“ Und dieser kurze Moment ist für Moore ein Beleg, dass er sich rangetraut, dass Bush ihn offiziell zum Gegner erklärt hat. Wie unangenehm und selbstgefällig. Wirklich wichtig ist, sich in die Versuchslabore zu trauen und dort zu agieren, auszuprobieren und wieder auszubrechen.

Und Theo van Gogh ist in diese Labore gegangen?

Ja. Eigentlich ist der Mord an Theo van Gogh nur interessant für das Versuchslabor Holland: Wie falsch war das holländische Selbstbild? Wie weich ist die niederländische Gesellschaft wirklich, oder wie hart? Wieso passiert das dort und bei uns nicht?

Die Frage ginge ja an Sie: Wieso hat damals niemand Helmut Kohl getötet, oder Sie, weil Sie dazu aufgerufen haben?

Das wäre natürlich verheerend gewesen und wahrscheinlich die Tat eines Halbirren. Aber grundsätzlich ist das genau der Punkt: Man kann eher sagen, man bombardiert den Irak, als „Tötet Bush“. Wenn einer einen Hammer rausholt und einem Politiker auf den Kopf schlägt, dann begrüße ich das nicht. Mich würde allerdings interessieren, was bis zu dieser Entscheidung im Täter vorgegangen ist, einschließlich seiner Gewissheit, dass er für diese Tat haftbar gemacht werden wird. Haftung wollen wir aber nicht übernehmen. Lieber Verstecken. Und irgendwelche Desiree Nicks im Dschungelcamp anschauen, die sich Maden in die Scheide schieben.

Wofür übernehmen Sie Haftung?

Mit 44 stelle ich fest, dass ich komischerweise dazu komme, erst mal Analyse zu betreiben, meinen Blick auf das Kranke richte, nicht auf das Gesunde. Krankheiten tauchen ohnehin vorwiegend bei denen auf, die Gesundung propagieren: beim Politiker, beim Fanatiker, der van Gogh tötet, weil er ihn für krank hält. Ist es nicht vielleicht aber auch so, dass van Gogh auf etwas Krankes hingewiesen hat? Und von den „Staatsärzten“, die jede Krankheit unter Kontrolle haben, umgebracht wurde? Der Blick auf die Krankheit interessiert mich momentan am stärksten. Vielleicht auch deshalb, weil ich selber älter werde, und erste Verfallserscheinungen auftreten.

Interessant. Die wären?

Amnesie. Ich habe ein Vergesslichkeitsproblem. Auch Familie Wagner und Bayreuth, das habe ich alles schon wieder vergessen.

Als Sie dort dieses Jahr den „Parsifal“ inszenierten, haben auch alle erwartet, dass Sie es richtig krachen lassen.

Ja, die Leute sind regelrecht süchtig nach Provokation, aber durchführen sollen sie immer die anderen. Und das bitte nicht zu hart. Ich hatte und habe nie vor, zu provozieren. Für viele Dummköpfe bedeutet das immer noch: Einer kommt und spuckt dir ins Gesicht. Und damit soll er dann Sachverhalte oder Verhältnisse entschärfen. Nennen wir ihn Provokateur, dann ist er geparkt. Und wir brauchen uns nicht mit seinen Thesen auseinander zu setzen.

Mit ihrer neuen Produktion, einer Adaption einer Arnold-Schönberg-Oper, geben Sie in gewisser Weise auch eine Antwort auf Bayreuth und Wagner: 12-Ton-Musik.

Das Prinzip tonal/atonal reizt mich: Es kann erst etwas Neues anfangen, wenn alle Motive durchgespielt sind. Ich muss eben meine 12 Hauptmotive finden. Wenn sie gespielt sind, kann ich sie auch wieder neu anordnen. Dieses Denkmodell interessiert mich wirklich.

Wäre eine Gesellschaft, die nach diesem Modell funktioniert, weniger krank?

Beweglicher. In Deutschland fühlen sich viele ja schon provoziert, wenn jemand über andere Ansätze nachdenkt. Man hat über Jahre hinweg gelernt: Ruhe bewahren, keine Experimente. Erst kürzlich in einer Talkshow, als ich vorschlug, die Gesellschaft als Gesamtorganismus zu betrachten, zu dem eben auch der Islamist, Jude, Katholik, Protestant und Calvinist gehören, um dann die Krankheitsherde zu diagnostizieren und Methoden dagegen zu entwickeln, hieß es nur: „Ich sage ihnen gleich, dass das nicht klappt. Wie soll das denn gehen?“ Diese Denke ist es, die viele Neuanfänge tötet, diese chronische Besserwisserei, ohne auch nur einen Versuch unternommen zu haben. Das verdammt zum Stillstand.

Welchen Platz haben religiöse Fundamentalisten in diesem Gesamtorganismus?

Fundamentalisten zeigen doch gerade, dass es ein verbindliches Wertesystem nicht mehr gibt. Im Übrigen zeigen das auch die Reaktionen der vermeintlich zivilisierten Welt auf diese Fundamentalisten. Das ist doch alles Brei. Dabei haben wir eigentlich einen großen Wert: rechtsstaatliche Prinzipien. Nur kämpft keiner dafür, keiner bekennt sich zu ihnen. Sie stehen nur noch als Floskel in der Ecke. Jüngstes Beispiel: NPD und DVU wollen sich bundesweit zusammenschließen. Außer dummen Äußerungen, dass die sowieso keine Chance haben werden, hört man dazu nichts. Es gibt keine Auseinandersetzung. Hält man dem NPD-Menschen am Wahlabend ein Mikro unter das Hitler-Bärtchen, dann verlassen die vermeintlichen Demokraten aus Protest das Studio, weil sie die Wahrheit ja gepachtet haben. Das werfe ich eben auch der größten Enttäuschung der Linken, Herrn Schröder vor, der sein Breitwandlächeln aufsetzt und in Stammtischmanier seine Reden schwingt. Ich hab’s satt.

Aber Sie fühlen sich noch als Linker?

Das muss ich doch bejahen, sonst brechen Sie ja bestimmt das Interview ab. Aber interessant, dass Sie „links sein“ nur noch als Gefühl wahrnehmen! Viel mehr ist davon schon nicht mehr übrig geblieben, jetzt wo schon Joschka Fischer ein Familienwappen in Auftrag gibt. Oder vermuten Sie hinter mir einen rechten Idioten? Da darf ich Sie beruhigen: Ich verachte diese Truppen, die bekämpfe ich – wenn ich Bundeskanzler wäre, hätte ich die schon lange eliminiert.

Eliminiert?

Auf die streng demokratische Tour natürlich, d. h. in einem Hotel untergebracht, lecker Weißwürste essen und Weißbier trinken. Der Bunker hätte aber sehr dicke Türen, durch die man fast nichts heraus hören kann. Hinzu kämen Fernsehredakteure, die sich notorisch feige verhalten, und die Politiker. Die könnten dann einfach mal wieder bei null anfangen. Nun kann man sagen, das klinge nach rechtem Gedankengut eines feigen Linken oder Bürgersöhnchens. Aber wenn es hart kommt, dann habe ich immer penetranter durchgehalten als andere.

Würden Sie sagen, dass Sie irgendwann mal richtig politisch unkorrekt waren?

Ich weiß gar nicht, was das sein soll.

Dass Sie gewisse Basiswerte einer Gesellschaft so erschüttert haben, wie es eben ein Theo van Gogh tat?

In Wien war die Grenze erreicht, als ich nach Big-Brother-Methode Asylbewerber aus einem Container wählen ließ – um sie einzubürgern. Plötzlich hat mir die Staatsanwaltschaft, die ja nun nicht gerade mein Freund war, mitgeteilt, ich sollte bei meinen Auftritten eine Plexiglasscheibe an meinem Hinterkopf tragen. Da war ein wirklich brenzliger Punkt erreicht.

Hatten Sie keine Angst?

Ich war zumindest kurzzeitig in dem Wahn, dass etwas passieren könnte. Nach meiner „Tötet Möllemann“-Aktion hatte ich wirklich Angst. Drei Staatsanwälte ermittelten und ich erhielt etliche Drohbriefe.

Ist das nicht genau die spannende Frage: Wann und warum überschreitet man die Grenze der ästhetischen Provokation?

Ich habe in diesen Momenten das Gefühl, dass es absolut real ist, Politik nachzuspielen. Das mag daher kommen, dass Politik ja ihrerseits nur ein Spiel ist, eine riesige Inszenierung. Dann erscheint man eben auch an Möllemanns Vorgartenzaun, kippt 40 Kilo Fisch und 7.000 Patronenhülsen hinein und verbrennt ein Scharon-Bild und die Israel-Flagge, das Ganze in Anwesenheit von Bundesgrenzschutzbeamten.