Für die Autonomie der Kunst

Was nach dem Realitätskult kommt: Die russische Kunst beharrt wieder auf Unabhängigkeit und Eigengesetzlichkeit. Damit entfernt sie sich jedoch nicht von der Realität, vielmehr findet sie zu einer distanzierten Wahrnehmung. Ein Plädoyer

In den 90er-Jahren war die künstlerische Öffentlichkeitzu einer Kritik am Marktnicht imstande

VON VIKTOR MIZIANO

Die 90er-Jahre in der russischen Kunst orientierten sich am Realitätskult. Die Dynamik des Umbruchs verwandelte sich in eine katastrophale Ereignishascherei. Der künstlerische Aktionismus wurde zum Markenzeichen dieser Epoche, er führte die Kunst aus dem Ausstellungsraum heraus, hinein in die soziale Realität, in die Welt der Massenmedien.

Was heute zur Debatte steht, ist die Verteidigung der Autonomie der Kunst. Sie wurde von einem der Helden der 90er-Jahre, Anatolyi Osmolowski, ausgerufen. Früher als andere tauchte er ein in das haltlose Element des Daseins und in die euphorische Welt der Medien; heute arbeitet er mit Texten, die sich auf die Thesen Theodor Adornos beziehen. Denn ohne die Kenntnis ihrer eigenen Grundlagen läuft die Kunst Gefahr, den ihr immanenten substanziellen Gehalt einzubüßen. Die Autonomie der Kunst zu fordern bedeutet: sich zu erinnern, dass die Kunst eigene formale Prinzipien und einen eigenen Zeitwert besitzt.

Als eines der ersten Manifeste der autonomen Kunst muss eine Installation von Irina Korina gelten. Bei ihren Arbeiten kehrt das Werk nicht einfach in den „White Cube“ zurück, sondern macht diesen unkenntlich, verwandelt szenografisch seine räumlichen Koordinaten. Zur selben Zeit versetzte Viktor Alimpiev den durch die Medien geblendeten Künstlern der 90er-Jahre einen Schlag. In seinen Videoarbeiten wird eine radikale Kritik an Schemata und Bildwelten der Massenmedien offenbar: Das Temporäre dehnt sich bis zur Unendlichkeit aus, die medialen Ausdrucksformen verkomplizieren sich und der Sinngehalt der künstlerischen Botschaften gibt seine Eindeutigkeit an eine Vieldeutigkeit ab.

Die Kunst, welche ihre Autonomie erlangt, lehnt die Realität keineswegs ab. Ganz im Gegenteil: Durch die Verweigerung, sich im Leben aufzulösen, kann sie endlich die Fähigkeit zu einer distanzierten Wahrnehmung erlangen.

In den vergangenen zehn Jahren stellte die Realität lediglich eine Bühne für die Realisierung all der grellen und aggressiven Projekte dar. Das Individuum beobachtete die Realität nicht, sondern okkupierte und formatierte sie. Die Hochstapler der Politik haben einen neuen Staat errichtet, die Oligarchen eine neue Ökonomie, die Medienmacher eine neue Öffentlichkeit – und die Künstler eine neue Szene. Obwohl die Besetzung der inhaltsleeren und grenzenlosen Realität durchaus heroisches Pathos besaß, waren einzig Affekte und Transgressionen die Folge. In den 90er-Jahren noch im Fieber des Dokumentarischen, entlarvt sich heute die Poetik vieler Künstler als leidenschaftsloser Dokumentarismus.

Aber wie nehmen die Künstler die Realität eigentlich wahr? Ihre Sicht beschränkt sich auf alltägliche und banale Fakten, sie bemühen sich nicht um eine Schlussfolgerung, sondern passen sich lediglich an die neuen sozialen Gegebenheiten an. Erst mit den ersten Anzeichen einer gesellschaftlichen Stabilisierung beginnen sie die Ausmaße des postsowjetischen Transformationsprozesses der letzten zehn Jahre zu begreifen. Den Künstlern erscheint die gegenwärtige Gesellschaft als fluktuierend und ungeformt. Weil sie im kompletten Widerspruch zu jenem stabilen und hierarchisch aufgebauten sowjetischen Sozialapparat steht, wie er in den Totalinstallationen von Ilya Kabakov klar erscheint. Nicht das Chaos, das im letzten Jahrzehnt bestand, sondern ebenjenen Sozialapparat thematisieren die Künstler, indem sie sich auf dessen innere Strukturierung als Ausgangspunkt berufen.

So zeigt Dmitry Vilensky in seinen jüngsten Videoarbeiten, wie aus den Überresten einer zur Disziplin gezwungenen und kontrollierten Gesellschaft plötzlich ein neues soziales Gewebe, eine Vielheit als Produkt einer über Nacht hereingebrochenen Demokratie entstehen. Die aktuellen Videoarbeiten von Olga Chernisheva führen vor Augen, wie der Zerfall des alten Systems das neue innerlich unabhängige Individuum hervorbrachte. Diese zwei Elemente – die soziale Masse und das Individuum – versucht die Künstlerin Nina Katjol zusammenzuführen. Ihre narrativen Videoinstallationen behandeln reale Helden, deren individuelle Existenz sich in die Geschichte einfügt. Das Individuum schwebt nicht mehr haltlos in der Zeit, sondern eine neue Sozialisation befreit es von seinen Traumata und zeigt ihm seine Wurzeln.

Dass es in der vergangenen Periode in der Gesellschaft weder Konsistenz noch Transparenz gab, hätte Gegenstand einer kritischen Analyse und eines formulierten Widerstandes sein können. Aber die 90er-Jahre gelten als Zeit eines aufgezwungenen Konformismus. Mehr als das, nach dem Zerfall der Ideologie in der postkommunistischen Gesellschaft hörten sowohl das Politische als auch das Ästhetische in seiner reinen Form zu existieren auf: Das Politische nahm die Form des Spektakels und der Buffonade, die Ästhetik die Form der sozialen Handlung an. Die im Regime des Überlebenskampfes gefangene künstlerische Öffentlichkeit war weit entfernt von einer Kritik am Markt oder am Glamour der Massenmedien.

Die Verteidigung der Autonomie der Kunst setzt unvermeidlich ihre Emanzipation vom Politischen voraus. Und der sich plötzlich und rasch formierende Markt und die massenmediale Industrie stellen die Künstler vor eine reale Wahl. Unter den neuen Bedingungen erschien vielen die Möglichkeit der Autonomie als willkommenes Mittel zu einer professionellen Existenz. Aber widersprüchliche kritische Reflexe in Markt und Medien verwandelten das künstlerische Schaffen mancher in eine nur gedankenlose Produktion. Für andere jedoch erweist sich die Autonomie der Kunst als eine lang ersehnte Möglichkeit, innerhalb der Kunst und als Persönlichkeit eine programmatisch kritische Position zu entwickeln.

So wendet sich Anatoliy Osmolowski – dem Vermächtnis Adornos treu – der Suche nach einer Sprache zu, die fähig wäre, eine Kritik ihres eigenen Fundamentes in sich einzuschließen. Die aus dieser Suche hervorgehenden Objekte basieren auf einer semantischen Unbestimmtheit: Sie fallen heraus aus dem System der bestehenden visuellen Codes und verweigern sich der Definition des künstlerischen Objektes als solchem. Diese Arbeiten sind ein Vorwurf an die Künstler, an Osmolowskis ehemalige „Weggefährten“, deren Werke in der Perspektive des Marktes zu semantisch unverfänglichen und visuell bequemen Produktionen mutierten.

Der Künstler Kerim Raguimow seinerseits besteht auf der Tradition des kritischen Realismus: Kritik ist für ihn nicht nur, wie man sich künstlerisch ausdrückt, sondern was man ausdrückt. Sein Zyklus „Roadoff“ zeigt, wie westliche Automobile im russischen „Morast“ versinken: Eine monumentale antiglobalistische Metapher für das Scheitern der neoliberalistischen Reformen.

Dabei schließt die Autonomie der Kunst für den Künstler nicht die Perspektiven des politischen Aktivismus aus. Nur vermischen die Künstler heute nicht ästhetische und politische Tat: Programmatisch wie bewusst stellen sie ihre autonomen künstlerischen Mittel in den Dienst der ihnen nahen politischen Bewegungen. Seine letzte Videoarbeit mit dem Titel „Lifshitz Institute“ versteht Dmitry Gutov als eine politische Didaktik und als eine Hommage an den Lebensweg eines bedeutenden Nonkonformisten, des sowjetischen marxistischen Philosophen Michail Lifshitz.

Zur selben Zeit widmet sich die neuste Videoarbeit „Die Negation der Negation“ von Dmitry Vilensky einem anderen überzeugten Nonkonformisten, einem unversöhnlichen Kritiker der kapitalistischen Globalisierung: Toni Negri. Die Epoche des politischen Karnevals scheint beendet, die Bürger der postkommunistischen Gesellschaft beginnen ihre politischen Interessen wahrzunehmen. Wie schon ein Idol der heutigen radikalen russischen Jugend, Slavoj Žižek, sagte: „Revolution is at the Gates.“

Viktor Miziano ist Herausgeber des „Moskau Art Journal“ und zeichnet bis 2007 für die Ausrichtung des russischen Pavillons auf der Biennale in Venedig verantwortlich. Zuletzt initiierte er gemeinsam mit Joseph Baksteijn die Moskau Biennale, die erstmals 2005 stattfinden wird. Ein undurchsichtiger Streit führte inzwischen zu seinem Ausschluss aus dem Kuratorenteam, dem unter anderem Daniel Birnbaum, Iara Boubnova und Hans Ullrich Obrist angehören. Die Übersetzung aus dem Russischen stammt von Paula Böttcher.