Moses als Spießer

Denkhemmung statt Religion: Dumpf inszeniert Peter Konwitschny Schönbergs „Moses und Aron“ in Hamburg

Es ist durch und durch ein Werk des Noch-nicht: „Moses und Aron“ von Arnold Schönberg (1874–1951) führt in die Regionen der zunächst sehr vage erscheinenden Verheißung, in denen die mosaische Religion sich herausbildete. Als „die Kinder Israels“ aus Ägypten ins Sinai-Gebirge zogen, besaß ja das, was später „das Gesetz“ genannt wurde, keine festen Konturen. Hauptberufliche Amtswalter gab es noch nicht. Die schriftliche Fixierung gar erfolgte sehr viel später. Mitte der 20er-Jahre war der Meister der freien Atonalität, der eben mit der neuen Ordnung der Zwölftontechnik rang, von Wien nach Berlin gezogen und hatte die Meisterklasse für Komposition an der Preußischen Akademie der Künste übernommen. Angesichts der zunehmenden Bedrohung der Juden und ihrer Kultur entschied er sich für die Rückkehr zur Religion seiner Väter und die Arbeit am zentralen Stoff der Thora beziehungsweise des Alten Testaments: Thema des von ihm selbst angefertigten Librettos ist das große Warten in der Wüste, das Ringen um den rechten religiösen Weg und die inneren und äußeren Bedrohungen eines (noch) nicht gefestigten Glaubens.

Ein Torso blieb das Werk allerdings nicht nur, weil Schönberg 1933 fliehen musste, sondern wohl auch, weil das Werk selbst an eine Grenze rührte: Es hat das Unsichtbare und Unvorstellbare zum Thema, die Entstehung der monotheistischen Religion und die ungeheuren Ansprüche des einzigen, ewigen, allgegenwärtigen, unsichtbaren und allmächtigen Gottes. Es fordert von Chor und Orchester ein Äußerstes. Der Dirigent Ingo Metzmacher holt in der Hamburger Staatsoper aus den Kollektiven mit starken Armen nüchternen Expressionismus heraus. Er steuert das Orchester hoch aus und differenziert die verschiedenen Chor-Dimensionen mit großem Geschick.

Wie Moses und Aron stehen auch der Ausstatter und Regisseur des Bühnenwerks vor dem Problem, das nicht zu Zeigende anschaulich zu machen. Dass Johannes Leiacker in Hamburg zunächst und zu den Umbaupausen einen Blick ins sternendurchflutete All eröffnet, bekundet Respekt vor der Tiefendimension des Werks. Der brennende Dornbusch, aus dem der „Ägypter“ Moses die göttliche Weisung empfängt, wurde vom Komponisten durch die Aufteilung der Sänger in einen (unsichtbar bleibenden) Sprechchor und sechs Solisten in Szene gesetzt. Peter Konwitschny zeigt die Polyphonie als heiteres Schafs-Sextett – auf allen vieren sind die Solisten in Flokati eingenäht, mit übergestülpten Schafsnasen. Das ist der erste Irrtum: Der Mann M. war alles andere als ein Pastoral-Theologe.

Konwitschny lässt den hünenhaften Frode Olsen mit Filzhut, grobem Fellmantel und Wurfschaufel in die Wohnküche von Bruder A. platzen. Mit Filterkaffee und Kuchenblech empfängt Reiner Goldberg, der eher einen skrupulösen Intellektuellen darstellt als ein glänzendes Medientalent, den „Sohn seiner Väter“. Auf dem öden Tisch steht die bei Inszenierungen dieses Typs längst obligatorische H-Milch-Packung. Zweiter grundlegender Irrtum: M. & A. gehörten zu einer feudalen Upperclass und nicht zur Mieterschaft im Plattenbau. Aber das Bild ist nicht ohne Anzüglichkeit: „In der Wüste wird euch die Reinheit des Denkens ernähren.“

Dann ein eher heiteres Missverständnis: „Reinige dein Denken“, steht auf einer seitwärtigen Tür – der Regisseur zeigt dazu ein Kollektiv der Ordnung und Sauberkeit aus der Endzeit des sozial existierenden Realismus. Eine Putzkolonne in der Kantine. Die Jalousien der Klimaanlage sind so versifft wie die Essensausgabe.

Es folgt Moses als Autor: Am Schreibtisch mit alter Reiseschreibmaschine zwischen Bergen zerknüllten Papiers. Er kommt nicht zu Potte. Die aufgebrachte Menge, wohl werktätiges Ostvolk, will Aron daher lynchen. Den goldenen Ochsen, den der ratlose Animateur notgedrungen bewilligt, zeigt Konwitschnys Übertragungskunst als flachen Trog. Schönbergs Licht- und Feuer-Metaphorik wird wörtlich genommen: Der hyperaktive Chor sammelt Geld und wirft es in die Wanne, wo es brennt, ohne zu verbrennen. Das Bacchanal dazu gleicht einer Körperertüchtigung von Wehrsportgruppen. Die „falschen Götter“ erscheinen als Masken von Schily und Merz, Schröder und Merkel. Dumpf waren die Resultate von Konwitschnys optischer Verschiebung zu Anfang, am Ende sind sie mit ihren Agitprop-Mittelchen dürftig und platt.

Konwitschny führt das „Auserwähltsein“ als bloße Behauptung der Brüder M. & A. vor, zeigt sich an deren Kommunikationsformen, Sprechstörungen und Denkhemmungen interessiert. Seine Inszenierung verrät eine signifikante Geringschätzung der Religionsfragen. Ob die systematische Verspießbürgerlichung der großen Denker einem latent antisemitischen Potenzial entspringt oder gedankenloser Routine eines angegrauten Regietheaters, wird sich oberflächlich kaum klären lassen. Aber weder das eine noch das andere erweist sich als hinderlich für breiten Zuspruch.

FRIEDER REININGHAUS