In einer digitalen Diktatur

Das Computerspiel „Halflife 2“ lässt dumpfe Ableger wie das gefürchtete „Counterstrike“ weit hinter sich. Denn mehr noch als die realistische Grafik überrascht die differenzierte Darstellung von Gewalt

von UKE BOSSE

Gerade ist ein Computerspiel auf den Markt gekommen, von dem freudig erregte Gemüter behaupten, es sei in der Welt der Computerspiele, was „Citizen Kane“ fürs Kino war, das beste Spiel aller Zeiten also. Es geht um den zweiten Teil von „Halflife“. Der Vorgänger erschien bereits vor sechs Jahren und zählt immer noch zu einem der beliebtesten Spiele überhaupt. Was macht ein Spiel richtig, dass es Menschen über den ganzen Globus verstreut über Jahre hinweg spielen? Und wie unterscheidet es sich von seinem primitiven Ableger „Counterstrike“, das nach dem Amoklauf von Erfurt vielfach für die „Verdoomung“ (Süddeutsche Zeitung) der Jugend verantwortlich gemacht wurde?

„Halflife“ tritt zwar im groben Gewand eines Ego-Shooters auf (mit Ichperspektive und verschiedenen Monstern also, die mithilfe eines Waffenarsenals erlegt werden müssen), wickelt den Spieler aber hinterrücks in eine packende Geschichte ein. Das war man gar nicht gewohnt. Dabei geht es eigentlich nur um das alte Problem: Versehentlich wurde ein Loch ins Raum-Zeit-Gefüge gerissen, und nun wollen extradimensionale Wesen die Welt erobern, wie das nun mal so ist.

Während aber andere Spiele – wie die Doom-Serie – ähnliche Szenarien als Vorwand für schlichte Metzeleien nahmen, überraschte schon „Halflife 1“ mit gekonnten Spannungsbögen. Diese eigentlich nahe liegende Innovation war 1998 eine Revolution und machte das Spiel zu einem Klassiker.

Nun gibt es also den zweiten Teil, der sich noch ehrgeiziger dem Versuch widmet, im Gewand modernster Grafik eine komplexe Geschichte interaktiv zu inszenieren, als wäre es ein guter Film oder ein gutes Buch. Der Spieler sieht die Welt durch die Augen des Protagonisten Gordon Freeman – eine Perspektive, die zur Identifikation mit dem Charakter einlädt und während des gesamten Spiels nie durch Zwischenszenen oder dergleichen unterbrochen wird.

Nach Betreten der Spielwelt entfaltet sich vor uns die trostlose Kulisse der trostlosen osteuropäischen Stadt City 17, mit Plattenbauten und omnipräsenter Überwachungstechnik.

Die fotorealistische Grafik malt in Pastellfarben melancholische Gemälde von verrosteten Maschinen und abblätternden Tapeten, während der Himmel das fahle Licht eines grauen Herbstes verströmt.

Im Hintergrund staksen riesige Roboter auf Teleskopbeinen herum, die an die „dreibeinigen Herrscher“ oder Vehikel von Orson Welles’ Marsmenschen erinnern. Polizisten tragen gespenstisch insektoide Masken, die ihre Gesichter verbergen. Durch die Luft surren kleine Roboter, die uns jedes Mal scannen, wenn wir in ihre Nähe kommen. Und die Menschen dieser Stadt nutzen ihre unglaublich realistische Mimik vor allem dafür, um möglichst hoffnungslos dreinzuschauen und sich über die Willkür der Polizei zu beklagen.

Überhaupt geht in der mehrstündigen Exposition alle Gewalt vom Staate aus, dem wir unbewaffnet und hilflos ausgeliefert sind. Während von den Bildschirmen ein Big-Brother-Verschnitt die Unterdrückung des Fortpflanzungstriebes preist, hören wir im Nebenzimmer Menschen ängstlich diskutieren. Es ist ein komplexes audiovisuelles Abbild eines orwellschen Überwachungsstaates. Wenn wir beiläufig mitbekommen, wie Polizisten eine Tür eintreten und die Einwohner verhören, gehört dies natürlich zur Inszenierung.

Der Plot hat gute Charaktere, lustige, traurige und beängstigende Szenen, wechselt beständig sein Tempo, überrascht wie ein gutes Buch oder ein guter Film – mit dem Unterschied, dass wir uns selbst in der Handlung wiederfinden, was diese beängstigende Welt erstaunlich erlebbar macht.

So werden wir von einem Polizisten gezwungen, eine Dose in den Müll zu werfen, da er behauptet, wir hätten sie fallen lassen. Oder wir werden von einem der insektoiden Wachmänner in einen Raum mit blutbeschmiertem Verhörstuhl geführt, was nichts Gutes verheißt – nur damit sich der vermeintliche Bösewicht als unser alter Freund Barney entpuppt.

Natürlich wäre „Halflife“ kein Spiel, wenn es keine Spielelemente gäbe. Wir werden innerhalb der Handlung vor Rätsel und Aufgaben gestellt, die unser Können testen. Und natürlich dürfen wir auch wieder Monster erschießen, diesmal aber unter realistisch simulierten physikalischen Verhältnissen. Gegenstände können aufgehoben werden und verhalten sich wie im echten Leben, Wippen wippen, Schaukeln schaukeln. Es ist vor allem die extrem realistische Inszenierung einer extrem gewalttätigen Gesellschaft, die dieses Spiel wesentlich von stumpfen Ablegern wie „Counterstrike“ abhebt. Robert Steinhäuser hätte sich gelangweilt.

Mit „Halflife 2“ begegnet das Computerspiel in seinen Ausdrucksmöglichkeiten erstmals anderen Genres wie dem Film oder der Literatur auf Augenhöhe – und ist ihnen in seiner Interaktivität bisweilen sogar überlegen.