Eine Knochenarbeit

Einmal im Jahr treffen sich Oberbayerns Totengräber. Dann ist der Tod allgegenwärtig, andererseits aber auch sehr weit weg

VON GEORG ETSCHEID

Nein, eiskalt ist es nicht, das Händchen. Und eigentlich auch kein Händchen. Eher schon eine ziemlich kräftige Pranke. Sie gehört Alois Weiland. Mit ihr hat der 51-jährige Münchner schon so manchen seiner Mitmenschen unter die Erde gebracht. Rein dienstlich, versteht sich. Denn Weiland ist Totengräber. Er versieht seinen Beruf bei der Friedhofsverwaltung der Landeshauptstadt München, die 25 „Grabmacher“ beschäftigt – wie die Totengräber heute von Amts wegen genannt werden. Auch wenn der Minibagger zumeist die Schaufel ersetzt hat: Ihre Arbeit ist immer noch die gleiche wie vor fünfhundert Jahren: Sie bringen die Menschen möglichst pietätvoll und fachgerecht unter die Erde, wo sie dann der Ewigkeit entgegengammeln.

Seit mehr als zwanzig Jahren kommen Oberbayerns Totengräber immer im Herbst an Kirchweihmontag zu ihrem Jahrestreffen zusammen. Dann ist zumeist auch der Bayerische Rundfunk mit seinem Heimatfernsehen zur Stelle, und die Totengräber treten für einen Augenblick wieder ins öffentliche Bewusstsein, aus dem sie fast verschwunden sind. Wie der Tod in einer auf Wellness und ewige Jugend getrimmten Gesellschaft ja auch schon lange nichts mehr zu suchen hat. Jedenfalls der leibhaftige im Gegensatz zum virtuellen Tod, wie er jeden Abend im Fernsehen auf allen Kanälen und in Computerspielen zelebriert wird.

Den Anblick einer echten Leiche in ihrer wächsernen Starre wollen die meisten Menschen aber nicht mehr ertragen. Der Körper ist noch nicht kalt, da steht schon der freundliche Herr vom Bestattungsdienst vor der Tür, um den Leichnam im luftdichten Kunststoffsarg wegzuschaffen. Die Wahl des richtigen Behältnisses für die letzte Reise, von Grabstein oder Kreuz und allem übrigen Drumherum ist meist eher eine Geld- als eine Stilfrage. Aus einem uralten Abschiedsritual wird ein nüchterner Akt der Entsorgung.

So prosaisch, wie diese Dienstleistung mittlerweile oft auch sein mag, ihr Negativimage als „Handlanger des Todes“ haben die Totengräber respektive Grabmacher auch immer noch nicht ganz überwunden. Alois Weiland, zurzeit als Personalrat freigestellt, ärgert sich manchmal über die Reaktionen auf seinen Beruf. Als der gelernte Metzger einmal mit Kollegen in einer Gastwirtschaft saß, wurden sie von einem Bauern mit den Worten begrüßt: „Oh weh, die Leichenfledderer kommen.“ – „Und du bist der Nächste, dem ich ein Grab schaufeln werde“, herrschte Weiland den Bauern an. Der zahlte sein Bier und ging.

Die etwa 120 Männer und ganz wenigen Frauen aus Oberbayern, die sich Ende Oktober zu ihrem Jahrestreffen am Münchner Ostfriedhof versammelt haben, sind aber mitnichten leichenblasse Gesellen in zerschlissenen, schwarzen Anzügen, wie man sie vielleicht aus dem Kino kennt. Sondern eine recht aufgeräumte, selbstbewusste Truppe, die schon zeitig am Morgen dem späteren Umtrunk im „Paulaner am Nockerberg“ entgegenfiebert. Viele sind in Tracht zum üblichen Gruppenbild erschienen: Krachlederne, wollener Janker, Haferlschuhe. Sie haben rote Gesichter und Hände, denen man die schwere Arbeit ansieht. Darunter viele junge Burschen: Nachwuchssorgen kennt die Branche nicht. Humor haben sie übrigens reichlich, die „Tiefbauingenieure“ und „Versenkungsräte“, wie sie sich ironisch nennen. Oder, auf gut Bairisch, „Boandlkramer“ (von „Boandl“, den Gebeinen).

Zunächst steht am Tag der Totengräber ein Gottesdienst in der Aussegnungshalle des Münchner Krematoriums auf dem Programm. „Das wär hier eine gute Tischtennishalle“, witzelt einer, als Diakon Franz Bodynek zu seiner Begrüßungsrede anhebt. „Seit 22 Jahren komme ich in diese Halle, aber noch nie habe ich eine Gesellschaft getroffen, die so fröhlich hereinspaziert ist.“ Bevor die Männer mit kräftiger Stimme ein routiniertes Vaterunser und ein Ave Maria beten, hat der Diakon noch eine aufmunternde Botschaft parat: „Totengräber ist kein minderwertiger Beruf, im Gegenteil. Ich bin froh, dass sich Menschen dieser Aufgabe mit Freude widmen.“

Alois Weiland widmet sich dieser Aufgabe seit dreißig Jahren. „Das ist Knochenarbeit“, meint er und lächelt über die Zweideutigkeit. Das Klischee vom Totengräber, der einsam in einem entlegenen Winkel des Gottesackers in aller Ruhe ein Grab schaufelt, ist schon lange passé. Die Münchner Grabmacher arbeiten im Akkord. 63 Euro brutto gibt es für jedes Grab mit Schalung. Dafür müssen viereinhalb Kubikmeter Erdreich ausgehoben werden.

Jeden Tag werden auf Münchens Friedhöfen 80 bis 120 Familien- und Urnengräber geöffnet und wieder geschlossen. Zurzeit sinkt die Sterberate. Aber „gestorben wird immer“, sagt Weiland. Insofern müssten die Totengräber einen sicheren Arbeitsplatz haben. Doch auch Sterberituale ändern sich. Selbst im erzkatholischen Oberbayern, wo die Erdbestattung seit Jahrhunderten die Regel ist, halten die eher im protestantischen Norden und Osten verbreiteten Urnengräber Einzug. „Bei uns ist schon jedes zweite Begräbnis ein Urnenbegräbnis“, sagt Michael Schreiner, Grabmacher aus Bad Wiessee am Tegernsee.

Sogar die in Italien üblichen Urnenmauern wurden schon gesichtet auf den Friedhöfen im Oberland, die eigentlich für ihre schönen, schmiedeeisernen Grabkreuze bekannt sind. Schreiner hat auch eine Erklärung dafür, dass sich die Leute immer häufiger einäschern lassen. „Ein Abteil in einer Urnenmauer ist hygienischer, billiger und pflegeleichter als ein Erdbegräbnis. Viele wollen ihre Angehörigen nicht mit der Grabpflege belasten.“

Eine Frage scheint fast allen Menschen, die ihre Angehörigen verbrennen lassen, immer auf den Nägeln zu brennen: Stammt das graue Häuflein in der Urne auch wirklich von der Oma? Oder wird die Asche im Krematorium etwa munter zusammengemixt und dann gerecht auf die Urnen verteilt? Für Wolfgang Stark, Leiter des Münchner Krematoriums auf dem Ostfriedhof, berührt diese Frage die Standesehre. Bei einer Führung durch das Krematorium erklärt er den Totengräbern, wie der Herkunftsnachweis erbracht wird. Wichtigstes Hilfsmittel sei eine kleine, weiße Tonscheibe mit einer Nummer. Die begleitet den Leichnam auf seiner mehrstündigen Reise vom Sarglager durch den Verbrennungsofen und den Schlund der Knochenmühle bis hin zur Urne. „Eine Verwechslung ist bei uns völlig ausgeschlossen“, versichert Stark. „Bitte erzählt es doch daheim allen weiter, wie unser Sicherungssystem arbeitet.“

Die meisten der Totengräber haben noch nie zuvor ein Krematorium von innen gesehen und starren nun gebannt durch ein Guckloch ins 750 Grad heiße Feuer der „Hauptbrennkammer“, in der gerade eine Leiche von den Flammen verzehrt wird. Nach kurzer Zeit sind Sarg und Körper fast völlig verkohlt. Im Feuerschein sieht man deutlich den Schädel und die Rippenbögen. Stark hat auch die ein oder andere Schauergeschichte auf Lager: „Bei sehr korpulenten Leichen läuft aus dem Ofen schon mal die Brühe raus. Da müssen wir dann mit Katzenstreu ran.“

An einer Wand des Krematoriums hängt Starks Wunderkabinett: eine stattliche Sammlung menschlicher Ersatzteile, die nach der Verbrennung mittels Magnet aus der Asche ausgesondert worden sind, Hüftgelenke aus Titan, ein Schultergelenk („Ganz selten!“), eine Batterie von Herzschrittmachern. Solcherlei Horrorstorys und posthume Devotionalien können den Totengräbern bei ihrer mittäglichen Brotzeit mit Schweinsbraten und Weißwurst, bei der es so ausgelassen zugeht wie auf einem Leichenschmaus, nicht den Appetit verderben.

„Die Arbeit härtet schon ziemlich ab“, sagt Weiland. Nur wenn Kinder beerdigt werden müssen, fällt die Routine von ihm ab. Vor ein paar Jahren musste er das Grab für drei Kinder schaufeln, die im Münchner Olympiasee ertrunken waren. Der Fall hatte einiges Aufsehen erregt, weil viele Menschen das Unglück gesehen hatten, aber nicht zu Hilfe geeilt waren. „Da machst du ein Grab auf und denkst, das hätte nicht sein müssen.“ Nicht jedermanns Sache sind auch Exhumierungen, sagt Weiland. „Routine wird eine Exhumierung nie.“ Mit Gasmaske und Schutzkleidung müssen die Grabmacher dann in das Erdloch hinabsteigen, um die in unterschiedlichen Stadien der Verwesung befindlichen Körper heraufzuholen.

Wie schnell sich ein Leichnam zersetzt, hängt von der Bodenbeschaffenheit ab. In München trifft man meist Kiesboden an. Der ist gut durchlüftet, weshalb die amtliche Ruhezeit hier nur zehn Jahre beträgt. Dann kann ein Grab schon neu belegt werden. „Richtung Unterföhring kommt der Lehm“, sagt Weiland. „Der ist undurchlässiger. Da tut sich schon mal dreißig Jahre lang gar nix.“ In Bad Wiessee herrschen unter Tage sehr unterschiedliche Verhältnisse. „Kies, Fels, Lehm, wie haben alles“, sagt Michael Schreiner, der selbst dereinst als Häuflein Asche mit genormter Korngröße von drei bis fünf Millimetern enden will: „In den Baaz [Brei, Pampe; Anm. G. E.] da unten leg ich mich nicht hinein.“

Irgendwie also ist beim Treffen der oberbayerischen Totengräber der schaurig grinsende Sensenmann allgegenwärtig – aber dann auch wieder sehr weit weg. Zu den letzten Dingen haben die, die es von Amts wegen betrifft, ein recht entkrampftes Verhältnis. „Ich habe keine Angst vor dem Tod“, sagt Alois Weiland. Dabei hat er sich fast schon einmal selbst sein eigenes Grab geschaufelt. Vor 25 Jahren stieß er beim Graböffnen auf eine Fliegerbombe aus dem Zweiten Weltkrieg, eine 20-Zentner-Bombe. Nur um Haaresbreite verfehlte sein Spaten den Zünder, der noch scharf war. So nahe, sagt Weiland, sei er dem Tod noch nie gewesen.

GEORG ETSCHEID, 42, lebt als freier Autor in München. Für das taz.mag schrieb er unter anderem über die bayerischen „Schwuhplattler“