„Musik ist Ekstase“

Ein Gespräch mit der Soulsängerin Anita Baker über ihr Comeback und die Schwierigkeiten, mit46 Jahren einen Plattenvertrag zu bekommen, den Tod ihrer Mutter und ihr Desinteresse an Glamour

VON MICHAEL TSCHERNEK

taz: Zehn Jahre sind seit der Veröffentlichung Ihres letzten Albums vergangen. Das ist nicht nur im Musikbusiness eine verdammt lange Zeit.

Anita Baker: Oh Gott, allerdings.

Es scheint Ihnen erstaunlich leicht zu fallen, an Ihre alten Erfolge anzuknüpfen …

(Lacht) Ich weiß, dass es so aussieht, aber so einfach ist das gar nicht. Es ist sehr viel geschehen in den vergangen Jahren, und es war eine lange Übergangsphase nötig, um zu der Person zu werden, die Sie auf dem Cover meines neuen Albums sehen. Es hat sehr lange gedauert, sie wieder hervorzuholen.

Welche Person ist denn auf dem Cover zu sehen? Anita Baker, der Star?

Nun, ich musste den Hut der Mutter ablegen und ebenso den Hut der Tochter. Und dann musste ich mich auf die Suche nach dem kreativen Hut begeben, der im Laufe der Zeit ein wenig verloren gegangen ist.

Aber jetzt passt er wieder?

Oh ja, der Hut passt immer noch. Der kreative Teil hörte gar nicht auf zu fließen. Zunächst wollte überhaupt nichts kommen, aber als sich die Tür dann endlich öffnete, hat es mich geradezu umgehauen.

Hatten Sie sich ganz bewusst für eine Auszeit entschieden?

Nein, ich bin nie so geistesgegenwärtig gewesen, auch nur überhaupt irgendetwas für zehn Jahre vorauszuplanen (lacht). Ich bin eine Zigeunerin. Ich bin schockiert darüber, dass ich verheiratet bin, dass ich eine Mutter von zwei Kindern bin. Ich habe nichts davon kommen sehen.

Sie sind all diese Lebensumstände nur reingestolpert?

Absolut. Ich habe mich selbst als Sängerin gesehen. Ich habe mir vorgestellt, in Clubs zu singen und dabei genug Geld zu verdienen, um glücklich zu sein, um cool zu sein. Alles andere ist eine Riesenüberraschung für mich. Alles. Inklusive mein derzeitiger Status. Welche Chancen hat denn eine 46-jährige Frau heutzutage, einen Plattenvertrag zu bekommen? Im Jahre 2004! 46 Jahre alt! Bei dem Alter kommt es gar nicht darauf an, ob du eine Frau, ein Mann oder sonst irgendetwas bist.

Blue Note ist ein klassisches Jazz-Label. Wo würden Sie selbst Ihre Musik einordnen?

Nun, das gehört dazu. Jazz war schon immer ein Teil meiner Musik, dreht sich immer um meine Musik, darüber oder darunter, auf der linken oder auf der rechten Seite, irgendwo schaltet sich Jazz immer ein. Und Blue Note ist der Ort, an dem ich im Grunde beides machen darf. Vor Jahren habe ich von Diana Reeves erstaunlichem Hybrid-Deal gehört, der ihr erlaubte, R & B und Jazz aufzunehmen. Und ich dachte mir: „Holy smoke, wo gibt es denn so etwas?“ Und jetzt bin ich hier. Das Schöne daran ist, dass du dir hier jeden Hut aufsetzen darfst, den du tragen kannst. Es geht um Kreativität.

Sie haben nicht etwa vor, sich nach diesem Album wieder für zehn Jahre zurückzuziehen?

Hören Sie zu: Wenn ich jetzt noch einmal eine Auszeit von zehn Jahren nehmen würde, dann wäre ich bereits im Altersheim, in einem Heim für alte Sängerinnen. Für mich gibt es keine weitere Auszeit mehr.

Sie haben Ihr neues Album gleich drei verschiedenen Elternteilen gewidmet, die alle in den vergangenen Jahren verstorben sind. Da treffen Sie die Unterscheidung zwischen Ihrer „Birth Mother“, Brenda Baker, und Ihrer „Earth Mother“, Lois Landry. Sind Sie bei Pflegeeltern aufgewachsen?

Genau. Beide Mütter haben aber zu meiner Entwicklung beigetragen.

Sie haben mit Ihrer leiblichen Mutter immer Kontakt bewahrt?

Nein, nicht immer. Ich habe sie zum ersten Mal getroffen, als ich ungefähr zwölf oder dreizehn Jahre alt war. Das Leben war nie besonders freundlich zu ihr. Sie war vermutlich ihr ganzes Leben über von verschiedenen Substanzen abhängig. Es war also gut, dass sie mich an andere Leute weitergereicht hatte. Als Kind habe ich nicht immer so darüber gedacht. Aber als Erwachsene mit eigenen Kindern habe ich sie etwas besser verstanden.

Wussten Sie bereits als Kind: Das sind nicht meine richtigen Eltern?

Ich wusste, dass irgendetwas nicht stimmt. Denn die beiden waren sehr viel älter als die Eltern anderer Kinder. Sie waren beide Rentner. Und ich war vielleicht zwölf Jahre alt, als ich andere Leute in der Kirche tuscheln hörte. (Flüstert): „Pss, pss, pss. Sie kann nicht das Kind der beiden sein. Pss, pss, pss.“ Und auch als ich in der Schule Formulare ausfüllen musste: Mein Name war Baker, aber sie trugen den Nachnamen Lewis. Wie sollte das funktionieren? Aber die beiden waren so großartige Leute. Ich bin nie formal adoptiert worden, sie haben also auch kein Geld dafür erhalten, dass sie sich um mich gekümmert haben. Sie haben für meinen Einstieg im Kirchenchor gesorgt. So ziemlich alles Gute, was man an mir entdecken kann, stammt von ihnen und ihrer Familie. Und als meine Pflegeeltern verstorben sind, hat mich ihre Tochter aufgenommen. Das war Lois Landry, meine Earth Mother. Wundervolle Leute.

Aber wenn Sie eine derartig enge Verbindung zur Musik verspüren, wie konnten Sie da überhaupt daran denken, eine zehnjährige Pause einzulegen?

Der Tod und das Sterben verändert die Dinge. Ich hatte keine Wahl. In dieser Phase wollte es eben überhaupt nicht mehr durch mich durchfließen. Ich habe diese Frau, meine Earth Mother, geliebt, und sie hat sechs Jahre lang gelitten.

Sie haben keine Musik aufgenommen in dieser Zeit. Haben Sie auch nichts geschrieben?

Nun, ein paar Gedanken sind mir durchaus gekommen. Aber diese Sachen waren sehr düster und sehr negativ. Kathartische Dinge. Nichts, was ich jemals aufgenommen hätte. Ich bin mir sehr wohl darüber bewusst, was meine Aufnahmen für mich sind, was mir Musik bedeutet. Nämlich Ekstase. Und aus dem Singen negativer Dinge beziehe ich keine Ekstase. Das ist einfach nicht mein Ding.

Und deshalb beschäftigt sich Ihr neues Album von vorne bis hinten mit Liebe.

Ja, das ist es für mich. Wenn der Sound stimmt, wenn die Rhythmusgruppe genau richtig kocht, dann führt dich das an einen bestimmten Ort. Wenn ich negative Dinge singe, passiert mir so etwas nie.

Ihre Söhne sind zehn und elf Jahre alt. Sie sind aufgewachsen, als Sie als Sängerin kaum aktiv waren. Aber sie wissen, dass ihre Mutter ein Star ist?

Nein, das wissen sie im Grunde nicht. Als sie mit der Schule angefangen haben, wurden sie von ihren Klassenkameraden angesprochen: „Eure Mutter ist berühmt, oder?“ Was meine beiden Jungs dann verneinten. Darauf sagten ihren Klassenkameraden wiederum: „Doch, meine Mutter hat mir gesagt, dass deine Mutter berühmt ist.“ Dann räumten sie vielleicht ein: „Sie war früher berühmt.“ Sie haben mit der Musik angefangen, weil Justin, ihr Cousin, Klavier spielt. Der ist gerade mal 9 Jahre alt und spielt einfach großartig Klavier. Und immer wenn Justin bei uns zu Besuch war, habe ich meine beiden ins Zimmer gerufen: „Kommt schnell. Justin wird uns etwas vorspielen.“ Und deshalb haben sie auch angefangen, Musik zu spielen. Jetzt wollen sie zu dritt eine Rockband gründen.

HipHop ist den vergangenen Jahren immer größer geworden. Können Sie damit etwas anfangen?

Ich bin 46 Jahre alt. Ich stamme aus einer anderen Generation. Das ist die Musik meiner Kinder, die Musik junger Leute.

Wie stehen Sie zu dieser verhältnismäßig jüngeren Generation von Jazz-Sängerinnen? Diana Krall, Jane Monheit, Norah Jones?

Diana, Jane und Norah, das sind nicht gerade junge Ladies, die gerade erst herauskommen. Die machen das schon immer, die Leute fangen nur gerade erst an, sich damit vertraut zu machen. Mit so etwas spaziert man nicht so einfach durch die Tür, dafür braucht man eine gewisse Zeit, und sie machen das jetzt schon eine Weile.

Was haben Sie in den vergangenen zehn Jahren am meisten vermisst? Das Songschreiben, die Aufnahmen, die Konzerte, den Glamour, die Aufmerksamkeit?

Im Zusammenhang mit mir gibt es keinen Glamour. Ich bin eine Arbeitsbiene, ich bin die Erste und die Letzte in einem Konzertsaal.

Und in der Show selbst, gibt es da keine Glamour?

Da gibt es keinen Glamour. Da gibt es Ekstase. Das ist der Moment, für den ich das Ganze überhaupt mache. Dieser Moment, an dem wir uns alle zur selben Zeit am selben Ort befinden. Ohne zu wissen, wie wir dahin gekommen sind.

Haben Sie die Aufmerksamkeit der Leute vermisst?

Nein. Ich weiß, dass das viele Leute immer wieder von sich behaupten. Aber es gibt kein Interview von mir, in dem ich jemals behauptet hätte, dass ich berühmt sein möchte. Ich will singen. Und an all den Dingen, die das mit sich bringen mag, bin ich nicht interessiert. Ich lebe nicht in Hollywood, ich lebe in Grosse Point, Michigan. Ich bin nicht daran interessiert, in Los Angeles zu leben und zu versuchen, zu jeder Party und Premiere zu gehen. Für so etwas habe ich keine Zeit. Ich will nicht so sehr vereinnahmt werden. Ich lebe keinen Plingpling-Lifestyle. Ich will, dass es mir und meiner Familie gut geht, aber mehr muss es auch nicht sein. Jeder soll haben, was er will. Ich stamme aus dem Mittleren Westen, und das ist es, was ich will.