Freiheit ist kein Kulturgut

Was beim aktuellen Geschwätz um „Leitkultur“ und „die Grenzen der Toleranz“ allzu gerne vergessen wird: Anpassung beruht auf Gegenseitigkeit – und das ist weniger bequem, als wir es uns vormachen

VON CHRISTIAN SCHNEIDER

Die Oppositionsführerin erklärt die Idee einer multikulturellen Gesellschaft für „dramatisch gescheitert“. Der Innenminister warnt vor „Multikulti-Seligkeit“. Der Kanzler schließlich zeigt die „Grenzen der Toleranz“ auf und fordert von jenen, die „mit uns“ zusammenleben wollen: Integrationswillen, was sonst?

Tatsächlich, in der ärmer werdenden Gesellschaft werden derzeit die sozialen Kosten von Globalisierung und Internationalisierung schärfer wahrgenommen. „Wir“ rücken zusammen, die feinen Trennungslinien zu „den anderen“ werden sichtbarer. Nach den Ereignissen in den Niederlanden lautet das hierzulande umlaufende Zauberwort „Anpassungsbereitschaft“.

Kulturelle Minderheiten sollen sie gegenüber dem Gastland und seinen Normen unter Beweis stellen. Kein Zweifel, Anpassung ist notwendig, wenn kulturell unterschiedlich geprägte Gruppen friedlich miteinander leben wollen. Diejenigen, denen die Rede von der Anpassungsnotwendigkeit an die „Leitkultur“ allzu selbstverständlich von den Lippen geht, übersehen freilich zwei entscheidende Bedingungen jeden sozialen Adaptionsvorgangs: Anpassung ist erstens ein prinzipiell unabschließbarer und zweitens kein einseitiger Prozess.

„Anpassung ist nicht nur Unterwerfung, sie bewirkt nicht zuletzt Veränderungen im bestehenden Milieu“, bemerkte der Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich schon in den sechziger Jahren. Anpassung bedeutet einen doppelten Prozess, der zudem in zwei Richtungen abläuft: Jede passive Akkomodation an fremde Kulturregeln bedeutet immer auch aktive Assimilierung der neuen Umweltbedingungen. Und jede äußere Anpassung an eine neue soziale Mitwelt erfordert einen Bildungsprozess nach innen – die Aufnahme und Anverwandlung fremder Verhaltensformen ins eigene Ich.

Diese Leistung haben wir nicht nur „den Fremden“ abzuverlangen, sie ist für uns selber lebenslange Aufgabe. Der Prozess der Zivilisation, auf den wir mit Recht stolz sind, ist weder für die Nationen noch für die in ihnen lebenden Individuen abgeschlossen. Jeder Einzelne hat im Jugendalter den schmerzhaften Schritt von der verantwortungsentlasteten Kinderrolle in den Erwachsenenstatus zu vollziehen, hat sich also einem Normensystem anzupassen, das – je nach Eigenart – tatsächlich wie eine schockierend fremde Kultur wirken kann.

In den dauermobilisierten „heißen“ Kulturen des Westens jedoch ist Anpassung längst zu einem Problem für alle Altersstufen geworden. Der in Beruf und Alltag geforderte „flexible Mensch“ ist ein Daueranpasser. Der Soziologe Richard Sennett weist darauf hin, dass ein junger Amerikaner mit mindestens zweijährigem Studium heute damit rechnen muss, in vierzig Berufsjahren wenigstens elfmal die Stelle zu wechseln und dabei seine Kenntnisbasis mindestens dreimal auszutauschen.

Anpassung ist jedoch nicht nur unabdingbare Voraussetzung für eine gelingende Berufsbiografie, sie ist letztlich der Preis jeder Zivilität – und er ist hoch. Kein Geringerer als Sigmund Freud hat den Prozess, in dem sich diese Zivilität – er nannte sie schlicht Kultur – als Verinnerlichung des äußeren Zwangs in jedem Einzelnen ausbildet, für so schmerzhaft gehalten, dass er von einer beinahe konstitutionellen „Kulturfeindschaft“ der Menschen sprach. In seinen pessimistischsten Momenten ging er so weit, die „Kultureignung“ der Gattung Mensch generell in Zweifel zu ziehen – zu groß sei der Verzicht, die jede Kultur ihren Teilnehmern abverlange, zu bitter die Einschränkung der individuellen Freiheit.

„Die individuelle Freiheit ist kein Kulturgut. Sie war am größten vor jeder Kultur, allerdings meist ohne Wert, weil das Individuum kaum imstande war, sie zu verteidigen.“ Diese knappe Feststellung, vor mehr als einem guten Menschenalter geschrieben, erinnert daran, wie fragil unsere eigene Balance als aufgeklärte „Kulturmenschen“ ist – und wie notwendig das Arrangement mit anderen.

Wenn wir uns mit geschwellter Brust zu Verteidigern der Werte der Aufklärung machen, und sie für andere zum Maßstab der Anpassung machen, sollten wir nicht aus dem Auge verlieren, was sie uns selber abverlangen. Der Verlust manch einer zivilen Selbstverständlichkeit, den wir dieser Tage beobachten, zeigt, wie sehr wir selber der permanent erneuerten Anpassung bedürfen – ans eigene Normensystem.

Zum Kern der Aufklärung gehört übrigens, dass das Fremde nicht mehr automatisch als feindlich erlebt werden muss.

Es sieht so aus, als müssten wir uns derzeit wechselseitig daran erinnern.