Viel Angst, viel Stückwerk und wenig Geld

Nach der ersten Pisa-Studie 2001 hat das Land Berlin zahlreiche Reformen in Kitas und Schulen angestoßen. Doch bei den Kindern ist bislang kaum etwas angekommen

BERLIN taz ■ Sieben Jahre lang hat die Berliner Landesregierung, in wechselnden Besetzungen, über ein neues Schulgesetz debattiert – und konnte sich nicht einigen. Das änderte sich mit dem Pisa-Schock: Danach hat der rot-rote Senat der Hauptstadt das bundesweit erste neue Schulgesetz „nach Pisa“ präsentiert. Das tastet zwar das dreigliedrige Schulsystem nicht an, sieht aber viele Reformen vor, die zeigen: Berlin hat aus Pisa gelernt. Ein bisschen zumindest.

Ein Schwerpunkt der Reformen liegt bei der Grundschule, die in Berlin sechs Jahre dauert – und vor massiven Problemen steht. Fast die Hälfte der hiesigen Vorschulkinder, so hat im vergangenen Jahr erneut ein flächendeckender Test gezeigt, spricht so schlecht Deutsch, dass sie Förderung benötigt, um in der Schule zu bestehen. Bei Kindern mit nichtdeutscher Muttersprache sind es sogar 80 Prozent. Auch bei den Kindertagesstätten hat SPD-Bildungssenator Klaus Böger zahlreiche Neuerungen auf den Weg gebracht. Von alldem ist bei den Kindern bislang allerdings wenig angekommen. Viele der Veränderungen wurden erarbeitet, debattiert, reformiert – und greifen in diesem und im kommenden Schuljahr nun zum ersten Mal. Bis sie sich flächendeckend in Schulen und Kitas niederschlagen, wird es Jahre dauern. Und bis sie in die Pisa-Ergebnisse einfließen, noch viel länger. „Reformen im Bildungswesen“, sagt Böger, „brauchen eben Zeit.“

Grundsätzlich bekommt Böger breite Unterstützung für seinen neuen Kurs. Was aber Details, Organisation und personelle Ausstattung der Reformen angeht, da hagelt es Kritik. „Vieles ist unausgegoren, nicht gründlich vorbereitet und geht zu schnell“, sagt Elfi Jantzen, Bildungsexpertin der Berliner Grünen.

Beispiel Grundschule: Erstmals wird im nächsten Schuljahr mit fünfeinhalb eingeschult, deshalb strömen anderthalb Jahrgänge in die Schulen. Wo die zahlreichen Erstklässler bleiben sollen, ist in vielen Fällen noch unklar. Die Kinder können dann – ebenfalls erstmals – je nach individuellen Erfordernissen ein bis drei Jahre in der „Schuleingangsphase“ bleiben, bevor sie in die dritte Klasse wechseln. Jahrgangsübergreifendes Unterrichten ist für viele Lehrer neu. Wie es genau aussehen soll und ob es zusätzliches Personal gibt, wissen die meisten Schulen noch nicht. Gleichzeitig soll sich auch der Unterricht in den anderen Klassen verändern: Die Fähigkeiten der Kinder sollen künftig im Vordergrund stehen, nicht das abfragbare Wissen.

Zudem sind die Grundschulen ab dem kommenden Jahr für die Nachmittagsbetreuung ihrer Kinder zuständig, mehrere zehntausend Betreuungsplätze werden von Kitas und Schülerläden an die Schulen verlagert. „Das ist alles neu und befremdlich und macht alle Beteiligten unsicher“ , sagt Annette Spieler, Grundschulleiterin im Kreuzberger Wrangelkiez. Böger, so die Kritik von Opposition, GEW und Elternverbänden, tue zu wenig, um diese Unsicherheit zu beseitigen. „Aber er muss die Beteiligten mitnehmen, wenn die Reform gelingen soll“, kritisiert Jantzen.

Beispiel Kindertagesstätten: Böger hat Deutschtests für alle Vorschulkinder eingeführt, die alljährlich dramatische Ergebnisse zutage fördern. Zusätzliche – und verpflichtende – Sprachförderung gibt es aber nur für Kinder, die in keiner Einrichtung sind. Das werden im kommenden Jahr gerade mal 600 Jungen und Mädchen sein, denn 96 Prozent aller Vorschulkinder in Berlin gehen in die Kita. „Wir schicken also die Kinder in die Einrichtungen zurück, die bei ihrer Sprachförderung versagt haben“, kritisiert FDP-Bildungsexpertin Mieke Senftleben. Zwar wird einiges getan, um die Sprachförderung dort zu verbessern: Die Verwaltung hat etwa Material für die Kitas erstellt, Fortbildungen intensiviert, und auch das neu erarbeitete und viel gelobte „Bildungsprogramm Kindertagesstätten“ legt einen Schwerpunkt auf Sprache. Aber ein umfassendes Sprachförderkonzept gibt es nicht – und auch kein zusätzliches Personal. Dabei ist wissenschaftlich erwiesen, dass Sprachförderung nur funktioniert, wenn sie kontinuierlich und in kleinen Gruppen betrieben wird. „So bleibt das Stückwerk“, kritisiert Dirk Steinmetz, in dessen Schöneberger Kita fast nur Kinder mit nichtdeutscher Muttersprache sind. Das weiß auch Bildungssenator Böger. Doch mehr Geld aus dem maroden Landeshaushalt kriegt er deshalb noch lange nicht. SABINE AM ORDE