„Lohn ist keine Herz-Jesu-Frage“

INTERVIEW BEATE WILLMS

taz: Herr Bofinger, wollen Sie sich um einen Job bei der Bundesregierung bewerben?

Peter Bofinger: Um Himmels willen, wie kommen Sie darauf?

Zuletzt gab es von allen Seiten nur Negativschlagzeilen über die Wirtschaft in Deutschland. Nur Wirtschaftsminister Wolfgang Clement wird nicht müde zu beteuern, dass das Land doch gar nicht so schlecht dastehe. Nun sagen auch Sie, wir seien „besser, als wir glauben“.

Und die anderen Mitglieder des Sachverständigenrats sind mir darin gefolgt. Im Jahresgutachten, das wir vorige Woche vorgelegt haben, heißt es ganz deutlich, dass an der Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft nichts auszusetzen ist. Der Titel des Gutachtens lautet: „Erfolge im Ausland – Herausforderungen im Inland“.

Ist das eine Frage der Fakten oder der Psychologie?

Das gehört immer zusammen. Wenn das Vertrauen in die Zukunft fehlt, ist es kein Wunder, wenn Unternehmen kaum noch investieren, Banken keine Kredite vergeben und Verbraucher das Geiz-ist-geil-Prinzip verfolgen. Rein psychologisch gesehen geht es also darum, das Selbstbewusstsein wieder zu stärken und mit dem Nörgeln aufzuhören.

Na gut – die Fakten sind: Mit 2,8 Prozent hat Deutschland einen höheren Leistungsbilanzüberschuss als der Durchschnitt der alten EU-Länder, die Exporte sind seit 1998 um 47 Prozent gestiegen, und 2002/2003 haben ausländische Unternehmen rund 40 Milliarden US-Dollar mehr in Deutschland investiert als umgekehrt. Das sieht in der Tat nicht eben Besorgnis erregend aus.

Genau, Deutschland kann sich sehen lassen. Trotzdem klingt es aus dem Unternehmerlager, als seien wir auf dem Weltmarkt längst abgeschlagen und müssten erst einmal die Wettbewerbsfähigkeit verbessern. Konkret gemeint sind damit vor allem Lohnsenkungen. Aber weil schon die Diagnose falsch ist, ist das auch der falsche Weg.

Eigentlich gibt es kein Problem, und alles wird gut?

Natürlich steht nicht alles zum Besten in Deutschland. Die Binnennachfrage kommt nicht von der Stelle, das Wachstum hält sich in bescheidenen Grenzen, und die Arbeitslosigkeit liegt auf einem Rekordniveau.

Das ist nicht neu. In den vergangenen Jahren hat die Mehrheit im Sachverständigenrat wie die meisten Forschungsinstitute aber gerade deshalb die Tarifpartner gemahnt, die Löhne höchstens bescheiden zu erhöhen.

Das ist einer der wichtigsten Gründe, warum wir heute eine gespaltene Konjunktur haben. Die Unternehmen haben einen Produktivitätsfortschritt erzielt und können mehr anbieten. Dieses höhere Potenzial kommt aber nur dort zum Zug, wo es auch eine verstärkte Nachfrage gibt. Im Inland aber sind die Effektivlöhne in diesem Jahr nur noch um 0,5 Prozent gestiegen, das Angebot kann hier also gar nicht genutzt werden. Deswegen kann die Wirtschaft auch nur entsprechend der ausländischen Nachfrage wachsen.

Wie stark müssten die Löhne denn steigen, damit ein Effekt erzielt würde?

Sie sollten sich am Produktivitätsfortschritt orientieren und einen Inflationsausgleich in Höhe des Preisstabilitätsziels der Europäischen Zentralbank anbieten: Ein bis anderthalb Prozent Produktivitätssteigerung plus zwei Prozent Inflation macht effektiv rund drei Prozent.

Das ist utopisch. Für die nächsten Jahre sind doch praktisch schon Nullrunden festgelegt.

Das ist leider so.

Die Forderung, die Inlandsnachfrage anzukurbeln – und das möglichst mit höheren Löhnen –, haben auch andere Experten wie die Memorandum-Gruppe oder Ihr Vorgänger im Sachverständigenrat, Jürgen Kromphardt, in den vergangenen Jahren immer wieder erhoben. Warum ist dennoch nichts passiert?

Wer heutzutage sagt, dass man Nachfrage braucht, gilt gleich als links, fast schon als Marxist. Höhere Löhne sind aber keine Frage von Herz-Jesu-Mentalität. Es sind die Unternehmen, die von der höheren Nachfrage profitieren, und nicht etwa die Gewerkschaften.

Was heißt das für einen Unternehmer, der betriebswirtschaftlich denken muss?

Für den einzelnen Unternehmer ist es nahe liegend, dass er nur an seine Kosten denkt. Aber die Unternehmensverbände müssten erkennen, dass man sich damit den Ast absägt, auf dem man sitzt. Kein Geringerer als Ludwig Erhard hat dies immer wieder gefordert.

Der Vater der sozialen Marktwirtschaft ist schon von vielen Seiten vereinnahmt worden – aber als Nachfragetheoretiker?

Genau. Laut Erhard gehört „eine freizügige Lohnentwicklung“ zum Konzept der Marktwirtschaft. Er kritisiert es sogar, dass „die Arbeitgeber niemals von sich aus eine Aktivität zugunsten einer an sich möglichen Lohnerhöhung ergreifen, sondern immer erst dann tätig werden, wenn die Gewerkschaften sie dazu drängen“.

Die letzten Lohnkürzungen – etwa bei DaimlerChrysler oder Siemens – wurden mit der Drohung, Teile der Produktion ins Ausland zu verlagern, erpresst.

Die Diskussion über die Verlagerung von Arbeitsplätzen ist ein doppeltes Problem. Die Lohnfrage ist das eine, das andere sind die Auswirkungen auf das Klima in den Unternehmen, die für den Binnenmarkt produzieren oder hier unternehmensnahe Dienstleistungen anbieten: Wenn sie mit dem Damoklesschwert leben müssen, dass die Produktion reihenweise abwandert, werden sie auch nicht investieren.

Was schätzen Sie, wie groß ist die Gefahr, dass massenweise Arbeitsplätze exportiert werden?

Man muss die Gefahr ernst nehmen, aber man darf nicht die gesamte Wirtschafts- und Lohnpolitik darauf ausrichten, alle Arbeitsplätze in der Industrie um jeden Preis zu halten. Wenn ein Unternehmen statt 26 wirklich nur noch 2,60 Euro Stundenlohn zahlen will, bringen auch ein paar Prozent Verzicht nichts. Ich bin überzeugt, dass die Bäume auch in Osteuropa nicht in den Himmel wachsen. Das Potenzial an freien qualifizierten Fachkräften dürfte in diesen Ländern sehr begrenzt sein. Und wenn sie erst abgeworben werden müssen, verkleinert das den Lohnkostenvorteil ganz schnell. Das sehen wir schon jetzt: Die höchste Steigerungsrate bei den Nominallöhnen hatten in den vergangenen Jahren die osteuropäischen Länder – an der Spitze Ungarn mit rund 11 Prozent.

Trotzdem wird es noch ein paar Jahre dauern, bis das Lohnniveau dem westeuropäischen entspricht, und danach können die Unternehmen immer noch weiterziehen.

Aber das hört doch schnell auf. Außer den Lohnkosten und vielleicht den Steuern gibt es ja auch noch die Rahmenbedingungen. Da muss der Unternehmer sich auch fragen, ob er Lust hat, sich etwa in Weißrussland mit der örtlichen Mafia auseinander zu setzen, ob ihm das Rechtssystem in China ausreichend Sicherheit für seine Patente bietet, ob er mit der Sprache oder der Arbeitseinstellung klarkommt.

Zurück zur Stärkung der Binnennachfrage: Außer der Lohnpolitik, die Sache der Tarifpartner ist, spielt auch die Fiskalpolitik eine Rolle. Eine der vornehmsten Aufgaben der Regierung könnte es sein, die Konjunktur anzukurbeln – leider bindet der so genannte Stabilitäts- und Wachstumspakt von Maastricht ihr die Hände.

Jedes Jahr versucht die Bundesregierung einen Haushalt aufzustellen, in dem das Defizit nicht größer ist als 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Und ein Jahr später merkt sie wieder, dass es nicht funktioniert hat. Nicht weil sie nicht gespart hat – objektiv hat sie das: Die Staatsausgabenquote ist deutlich niedriger geworden, die staatlichen Investitionen dramatisch zurückgeführt, und ein Viertel der Arbeitsplatzverluste kommen aus der öffentlichen Verwaltung. Das Problem ist, dass das Sparen gleichzeitig die Konjunktur und die Investitionen bremst, sodass es zu Steuerausfällen kommt und die Ausgaben für die sozialen Sicherungssysteme wieder größer sind als erwartet.

Die EU-Finanzminister basteln gerade an einer Neujustierung des Paktes.

Es geht nicht um Justierung, sondern um mehr. Viel wichtiger als die Frage, ob einzelne Länder die völlig willkürliche Grenze von 3 Prozent einhalten können, ist, ob die 12 unabhängig voneinander gebildeten nationalen Haushalte in der Summe eine Finanzpolitik ergeben, die dynamisch ist und zu Stabilität und Wachstum führt. Wenn das Wachstum nicht stimmt, lässt sich die fiskalische Situation auch nicht in den Griff bekommen. Das bisherige Regelwerk hat eindeutig versagt, weil es zu einer eindimensionalen Sichtweise geführt hat, bei der die europäische Fiskalpolitik keine aktive Rolle für die Konjunkturstabilisierung spielt. Was wir aber in Euroland genauso brauchen wie in Deutschland, ist die Rückkehr zu einem gesamtwirtschaftlichen Konzept.