Wirklich nur die berühmte Kirchturmpolitik?

München hat ein Alleinstellungsmerkmal mehr: Es sollen keine Hochhäuser über 99 Meter gebaut werden. Das Viertel der Bürger, das abstimmte, hat knapp entschieden

Die Türme der Frauenkirche sollen Maßstab aller Dinge sein. Keine Hochhäuser über 99 Meter! Dafür hat sich am Sonntag in einem Bürgerbegehren immerhin jeder zehnte Münchner ausgesprochen. Der Vorwurf „Kirchturmpolitik“ liegt vergleichsweise nahe. Der unterlegene Oberbürgermeister wertet das Abstimmungsergebnis – 50,8 Prozent gegen hohe Hochhäuser, 49,2 dafür – als „Niederlage für den Wirtschaftsstandort München“. Damit wird die skandalös polarisierende „Diskussion“ der letzten Wochen fortgesetzt, das Ergebnis als Misstrauensvotum gegen die Planungskompetenz der Stadtgremien nicht ernst genommen. Dass der Unmut nach Metern vermaßt wird, ist bedauerlich. Aber wäre eine Qualitätsforderung im Bürgerentscheid überhaupt zu formulieren gewesen? Ist die Höhenmarke nicht eher ein all zu ernst genommener rhetorischer Kunstgriff, eine Metonymie, die das „Eigentliche“ durch einen anderen Ausdruck ersetzt, der zu ihm in einer realen Beziehung steht?

Nicht nur die „Mir san mir“-Münchner sind geschockt von der Brutalität, mit der die 126 Meter hohen „Highlight“-Türme von Murphy und Jahn sich in das Ludwigstraßenensemble drängen. Es ist bekannt, dass sich die Stadt im Planungsverfahren hat erpressen lassen. Das vierseitige Panorama im Lokalteil der Süddeutschen Zeitung, das alle Türme optisch miniaturisierte, wurde als weiterer Affront wahrgenommen. Das „Highlight“ ist der Gegenbeweis. Der Münchner lässt sich nicht mit perspektivischen Tricks für dumm verkaufen. Auch das Argument der Fortschrittsprediger, was nicht in die Höhe wachse, wachse wie L.A. breiig in die Breite, war dreist. Denn was in die Höhe gebaut wird, muss nach GFZ in der Fläche freigehalten werden.

Anfangs richtete sich das Bürgerbegehren auch gegen vier bis zu 120 Meter hohe Türme am Birketweg, die das Nymphenburger Schlossrondel ästhetisch ruiniert hätten. Die Stadtbaurätin verteidigte das Projekt mit Verve: Die Turmgruppe gebe dem Stadtteil Profil und sorge für mehr Grün. Inzwischen wurde der Plan aufgrund der Bürgerproteste geändert. Der neue Entwurf, lobt Investor Franz Lucien Mörsdorf, sei in der Höhenentwicklung auf 60 Meter begrenzt, dadurch kompakt, „spannend“ und noch grüner. Es geht also auch anders.

Bitter ist jedoch, dass mit dem Begehren zwei Projekte die rote Karte bekommen haben, für die bereits genehmigte Bebauungspläne vorliegen: Das Hochhaus der Süddeutschen Zeitung an der Riemer Autobahn und die Türme des neuen Stadtteils Isar-Süd auf dem Siemensgelände in Obersendling. Kann geltendes Baurecht durch Bürgerentscheid ausgesetzt werden? Eine juristisch spannende Frage, auf deren Antwort die Bauherren warten. Denn die SZ hat ein Grundstück, das enge Grenzen setzt. Und Isar-Süd würde tatsächlich an Qualität verlieren, wenn das unter Denkmalschutz stehende Siemens-Hochhaus nicht durch zwei schlanke Türme hinterfangen, und so zu einer quartierbildenden Gruppe ergänzt würde. Die Alpen – wie die Gegner behaupten – werden dadurch nicht verstellt. Es wird Zeit, dass nach dem Glaubenskrieg der letzten Monate wieder über das Eigentliche debattiert wird: Über Qualität. Der 99-Meter-Entscheid ist jedenfalls nur ein Alleinstellungsmerkmal mehr. Und bisher gibt es keine Firma, die wegen der bereits gebauten Uptowns und Highlights nach München kommen will. IRA MAZZONI