Kaufrausch-Exorzist

AUS NEW YORK UND BERLIN HILMAR POGANATZ

Die Tempel des Bösen haben ihn umringt. Sie ragen wie abgefeilte Zahnstümpfe in die bleiernen Schwaden eines endzeitlich dräuenden Himmels, doch er wird nicht weichen. Weiß strahlt sein Smoking und die blondierte Elvistolle, steif steht der Priesterkragen empor, und in der Hand hält er das heilige Megafon.

Die Tempel des Bösen, das sind für ihn die Hauptquartiere der supranationalen Konzerne, die New Yorks 5th Avenue dominieren: Time Warner, Coca-Cola, Disney. Doch sie können ihm nichts anhaben, denn er ist Reverend Billy, Amerikas Prediger gegen den Konsumterror, er ist umringt von seinen safranberobten Jüngern, und er vollzieht heute das Hochamt gegen den Shopping-Wahn.

Wie ein delirierender Televangelist steht der wuchtige Reverend inmitten einer riesigen Pfütze, streckt seinen Arm gen Himmel, reißt seine blauen Augen auf und verkündet das Wort der Church of Stop Shopping: „Kinder! Bereuet! Stoppt das verdammte Shopping! Hallelujah!“

Um ihn herum strömen die amerikanischen Massen, um sich wie jedes Jahr am Tag nach dem Erntedankfest in den Weihnachtskaufrausch stürzen. Für den Reverend der rechte Ort, um ein Zeichen für den „Buy Nothing Day“ zu setzen, den internationalen Tag der Konsumkritik. Er hat seinen Gospelchor mitgebracht, und 20 Stimmen erheben sich gen Himmel: „Start stopping, the bus is departing, we will never shop again, everbody needs a little exorcism.“

Wo immer der grobschlächtige Geistliche auftaucht, entsteht wie im vergangenen Jahr ein spontanes Happening – ein Effekt, den er zum Kaufnix-Tag 2004 vervielfachen will. Schon gestern hat er auf dem Times Square in Manhattan „die neue Reformation“ verkündet, um alsdann einen Haufen Billy-Imitatoren um sich zu scharen, die Uhren zu vergleichen und dann gleichzeitig die umliegenden Kaufhäuser und Starbucks-Filialen zu stürmen, um auf ihren Tresen zu tanzen und ihren klingelnden Kassen „den Teufel auszutreiben“. Erst kürzlich verurteilte ihn ein Gericht in Los Angeles wegen einer ähnlichen Aktion. Reitet den Reverend der Teufel, oder ist er von allen guten Geistern besessen?

Visionen geben

„Mein Job ist es, den Leuten eine Vision zu geben“, sagt Bill Talen. Dies ist der richtige Name Seiner Hochwürden. Talen, ein 52 Jahre alter abgeschworener Calvinist aus dem Mittleren Westen, ist eigentlich Schauspieler. Sein Gospelchor und seine rund 150 Jünger sind ein Ensemble – eine politische Gruppe, aber auch eine Kirche. Ihre Bühne ist nur selten ein Gotteshaus, viel öfter sind es Straßen, Einkaufszentren und McDonald’s-Filialen.

Als Talen Mitte der Neunziger down and out in New York strandet, gerät er an den abtrünnigen Priester Sidney Lanier, einen Cousin Tennessee Williams’ und Mitbegründer des erfolgreichen Off-Theaters American Place. Der Theatermann erkennt in ihm den geborenen Prediger. Innerhalb kurzer Zeit baut sich Talen aus den populären Comedy-Stars und irren TV-Predigern sein Alter ego Reverend Billy zusammen und beginnt, am New Yorker Times Square zu predigen. „Die Konsumgeilheit und die großen Shoppingtempel hatten den Broadway zerstört, diesen heiligen Ort des Theaters“, sagt Talen heute. „Mir wurde damals klar, dass wir einhalten müssen.“

Seitdem tourt der Reverend nicht nur durch die Staaten, sondern die gesamte „Erste Welt“. Gestern New York, heute London, morgen Hamburg: Vom 1. bis zum 4. Dezember wird er die Konferenz „Go Create Resistance“ im Deutschen Schauspielhaus besuchen, über „Religion und Konsum“ sprechen, und nebenbei den noblen Jungfernstieg aufmischen.

Trotz Konsumflaute

Dass Billy auch gerade in Deutschland auf Sympathien trifft, mag angesichts Hartz IV und Konsumflaute verwundern. Dennoch hatte er bei einer Aktion Anfang des Jahres in einem Berliner Shoppingcenter am Potsdamer Platz nach wenigen Minuten die studentische Menge auf seiner Seite, die eigentlich gegen Studiengebühren demonstrieren wollte.

„McDonald’s, Ritz-Carlton“, überschlug sich seine heisere Stimme, „um uns sind all diese gottverdammten Orte, an denen wir Disziplin üben können, indem wir ihnen nicht unser Geld geben – die Konsumentenrevolution hat bereits begonnen!“ Minuten später war Talen von Polizisten umringt und wurde in einen Wagen gezerrt.

„Natürlich ist der Buy Nothing Day absurd“, sagt Bill Talen. Der Reverend würde so etwas nie sagen. „Natürlich werden wir nicht die großen Konzerne stürzen, ich spiele nur meine Rolle, ich bin ein Narr“, erzählt er, während er im „Noho Star“-Café in Manhattan ein Walnusseis verschlingt. Den beiliegenden Glückskeks lässt er ungeöffnet, denn er ist weder gläubig noch abergläubisch. „Progressive Leute dürfen angeblich nicht so übertreiben wie die religiöse Rechte“, sagt er. „Aber warum? Scheiß drauf! Selbst wenn es nur für einen Tag ist, hör auf damit!“

Mit dem Advent der globalisierungskritischen Bewegung ist seine Botschaft für immer mehr Menschen relevant geworden, er sagt jetzt Dinge wie „die amerikanischen Konsumenten sind außer Kontrolle“ und zitiert das gigantische Außenhandelsdefizit der USA. Der Performancekünstler ist zum Politiker geworden, aber im Zentrum seiner anarchischen Aktionen steht noch immer der Spaß: „Hol dir einen schlechten Elvis-Haarschnitt und ein weißes Jackett, und stell die ‚Verbrechen‘ des Reverend nach!“, lautet ein Aufruf auf seiner Website. Am Kaufnix-Tag geht es um ein wenig Anarchie, Rock ’n’ Roll und ein paar gute Momente gefühlter Verbraucheremanzipation. „Changellujah!“

Zurück auf der 5th Avenue, Buy Nothing Day 2003, an den Portalen des Disney-Stores. Das heilige Megafon übertönt die dudelnde Plüschwelt: „Verlassen Sie sofort den Shop“, brüllt Billy und lässt die Kunden, von der Fülle der Produkte längst benommen, sprachlos zurück. „Disney verkauft Sweatshop-Produkte, euer Pocahontas-Shirt haben Kinder in Asien für einen Hungerlohn genäht! Mickymaus ist der Antichrist!“, schreit er mit hochrotem Kopf, während sich langsam ein Polizeigürtel um ihn schließt. Die Lehren des Predigers kommen auch hier einigen unheimlich vor. Eine Familie, die aus Texas zu Besuch ist, steht kopfschüttelnd am Straßenrand: „Was sind das für Leute? Terroristen?“