Mit den Toten sprechen

Es ist etwas faul im Elisabethanischen Zeitalter: Der Literaturwissenschaftler Stephen Greenblatt, führender Kopf des „New Historicism“, hat eine Shakespeare-Biografie vorgelegt: „Will in der Welt“

VON CHRISTIAN SEMLER

Shakespeare-Biografen sehen sich bis in unsere Tage einem Dilemma gegenüber. Während der Korpus unseres Wissens über das England der Shakespeare-Zeit, also der Renaissance, ständig anschwillt, bleibt die Zahl der Fakten, die uns über das Leben William Shakespeares unterrichten, erschreckend konstant. Vor die Wahl gestellt, entweder ein neues Werk des Dichters zu entdecken oder ein Dokument, das die Identität des Dichters Shakespeare mit Mr. Shakespere aus Stratford-upon-Avon erweist, wäre die Antwort der Shakespeare-Fans weltweit eindeutig: Das erlösende Dokument muss her! So jedenfalls sah es Anthony Burgess, dem wir sowohl eine fiktionale wie eine historisch anspruchsvolle Shakespeare-Biografie verdanken.

Aber was kann hier „historisch anspruchsvoll“ heißen? Wo doch kein Fetzchen Papier existiert, das den Schauspieler, Theatermanager und -besitzer, den gewieften Immobilienhändler und rücksichtslosen Schuldeneintreiber, über dessen Treiben wir einigermaßen durch Urkunden unterrichtet sind, mit dem Dichter Shakespeare verbindet. Kein einziger Brief, kein Tagebuch, nur eine einzige Manuskriptseite, und die ist zweifelhaft. Aber dieser Umstand hat in mehr als 300 Jahren noch nie einen der Shakespeare-Biografen abgeschreckt. Sie verfuhren nach einer Maxime, die Mark Twain in seiner Satire „Is Shakespeare dead?“ nach wie vor unübertroffen folgendermaßen charakterisiert hat: „Wir notieren die fünf bekannten Tatsachen selbst auf einem Blatt Papier und bezeichnen es mit Seite 1. Dann füllen wir 1.500 andere Blätter mit ,Mutmaßungen‘ und ‚Annahmen‘, mit zahlreichen ‚womöglich‘ und ‚vielleicht‘, ‚zweifellos‘ und ‚fraglos‘, mit ‚Gerüchten‘, ‚Schätzungen‘ und ‚Wahrscheinlichkeiten‘, mit ‚und dürfen wir wohl annehmen‘ und ‚sind wir berechtigt zu glauben‘, ‚könnte gewesen sein‘, ‚sollte gewesen sein‘, ‚muss gewesen sein‘, ‚ohne den Schatten eines Zweifels‘ – und siehe da? Material? Wozu? Was wir haben, das reicht für eine Shakespeare-Biografie!“

Wer ist William S.?

Small wonder, dass bei dieser Lage der Dinge eine Beschäftigung ins Kraut schoss, die nach wie vor die Energien vieler detektivisch veranlagter Autoren verschlingt. Es geht um die Antwort auf die Frage: Welcher bedeutende Zeitgenosse verbarg sich hinter William Shakespeare? Aber auch hier paradieren seit 100 Jahren die immer gleichen Kandidaten. Freud beispielsweise tippte auf den gelehrten Lordkanzler Francis Bacon, vielleicht, weil der ursprünglich mit dem Namen Hamlets versehene Komplex ihm so sehr im Nacken saß, dass er Shakespeare abschüttelte und Hamlet in Ödipus umtitulierte. Was wiederum zu der Frage Anlass gab, analysiert Freud Shakespeare oder wird er selbst von Shakespeare analysiert?

Von Ansichten dieser Art ist die soeben erschienene Biografie „Will in der Welt“ des amerikanischen Literaturwissenschaftlers Stephen Greenblatt gänzlich unberührt. Für Greenblatt steht keinen Augenblick in Frage, dass Shakespeare Shakespere war. Eine sympathische Grundeinstellung, denn sie verfällt wenigstens nicht dem beliebten Stereotyp, wonach alle Schauspieler dumm und ungebildet sind. Wie die vor ihm erschienenen Biografien ist auch Greenblatts Werk auf die dürre Faktenlage verwiesen; und wie viele seiner Vorgänger ist er gezwungen, aus den Werken des Dichters Shakespeare Rückschlüsse auf die empirische Person Shakespeare zu ziehen, was streng genommen eine Petitio principii darstellt. Dennoch verfällt Greenblatts Biografie, obwohl er oft genug „vielleicht“ und „so könnte es sein“ sagt, nicht dem Verdikt Mark Twains. Sondern das Buch bietet eine überaus belehrende, unterhaltsame und in seinen Schlüssen meist plausible Lektüre. Wie dies?

Greenblatt ist der Begründer und führende Kopf der Schule des New Historicism, die ihr hauptsächliches Arbeitsgebiet, die englische Renaissance, in einer doppelten Frontstellung bearbeitet. Er wendet sich gegen die herrschende Tradition der werkimmanenten Interpretation, den New Criticism, der sich gegenüber der Geschichtlichkeit der Literatur abschottet. Er lehnt aber auch die Grundannahme des klassischen, zum Beispiel des deutschen Historismus des 19. Jahrhunderts ab, wonach die historischen Ereignisse sich jeweils zu einem einheitlichen Epochenzusammenhang fügen, ihren „Geist“, der den Hintergrund für die Werke der Literatur bildet. Vielmehr sieht Greenblatt zwischen den Erzeugnissen der „schönen Literatur“ und den anderen Texten einer Epoche einen diskursiven Zusammenhang. Ohne dass er im mindesten die dichterische Qualität eines Werks im Namen der Gleichwertigkeit aller historischen Quellen einebnet, gelingt es Greenblatt, die „sozialen Energien“ spürbar werden zu lassen, die zwischen den literarischen Werken einer Epoche und Arbeiten gänzlich disparater Wissensgebiete und Praktiken flottieren. Er dechiffriert die durchgehenden Diskurse, deren Verdichtung, aber auch ihre Widersprüchlichkeit. Dieses Verfahren hängt entscheidend vom Erklärungswert der zugezogenen Quellen ab. Im optimalen Fall gelingt eine dichte Beschreibung, wird das literarische Werk „aufgeladen“.

Erfreulicherweise sind Greenblatt und seine Mitstreiter keine Philosophen, sondern Textanalytiker des historischen Materials, arbeiten also strikt anwendungsbezogen. Großflächige Theorien sind ihnen fremd, ihre Forschung bewährt sich in der Zusammenschau oft trivialer, oft dem Alltagsleben der Zeit entlehnter Dokumente mit der „großen Literatur“. Diese Arbeitsweise verführt den Leser, auch wenn er historisch nicht vorgebildet ist. Sie liebt das Anekdotische, ist voller Überraschungen hinsichtlich des Materials, ermüdet nicht durch langatmige Erläuterungen ihres diskurstheoretischen Vorlaufs. Sie hüpft, ist offen und oft genug fragmentarisch.

Greenblatt ist sofort nach Erscheinen seiner Biografie mit dem Vorwurf konfrontiert worden, er habe mit seiner Shakespeare-Biografie sein bisheriges theoretisch anspruchsvolles Werk verraten und sich in die Niederungen eines wissenschaftlich naiven Genres, eben der Lebensbeschreibungen, begeben. Das Gegenteil trifft zu. „Will in der Welt“ macht von der Arbeitsweise des New Historicism Gebrauch. Das heißt, er kippt seine immense Aktenkenntnis des Elisabethanischen Zeitalters nicht über unseren wehrlosen Köpfen aus, malt keine Panoramen, sondern beleuchtet mit Hilfe des vielfältigen historischen Materials die schwachen Spuren von Shakespeares Lebenslauf.

Wir werden gewahr, wie die politischen und seelischen Erschütterungen des Zeitalters nicht nur Shakespeares Werk sondern – vielleicht? – auch seine Person durchziehen. Dabei drängt Stephen Greenblatt dem Leser weder die ausgebreiteten Beweisstücke noch die daraus gezogenen Schlussfolgerungen auf. Er suggeriert nicht – er „zeigt“.

Exemplarisch kommt diese Arbeitsweise Greenblatts zum Ausdruck, wenn er sich einem der dunkelsten und umstrittensten Komplexe der Shakespeare-Forschung zuwendet, dem Verhältnis des Dichters zum englischen Katholizismus, also zu den verfolgten „Papisten“, die im Zeichen des Kampfs gegen Spanien oft nicht zu Unrecht unter dem Generalverdacht des Hochverrats standen. In Frage steht nicht, ob Shakespeare heimlicher Katholik war (sein Vater war einer), sondern wie er als Dichter und Mensch mit der Erschütterung des alten Glaubens, mit der allgegenwärtigen Angst vor Verrat, mit der Sehnsucht nach einem geordneten, sicheren Regiment umging, damit „fertig wurde“. Greenblatt vermutet, dass Shakespeare während der „dunklen“, das heißt nachrichtenlosen Phase seiner Jugend enge Verbindungen zu katholisch gebliebenen Aristokraten unterhielt, und bietet zur Untermauerung dieser These alles auf, was das historisch aktenkundige illegale Netz der jesuitischen Arbeit in die Nähe von Shakespeares – möglichen! – Lebenskreis rückt.

Hamlet im Fegefeuer

Noch dichter verwebt Greenblatt zwei Todesdaten, den Tod von Shakespeares Sohn und den seines Vaters, mit der Krise, in die viele Gläubige gerieten, als die vertrauten Riten des Übergangs zum Tod, also letztes Abendmahl, Beichte und letzte Ölung, als Aberglauben der protestantischen Säuberung zum Opfer fielen. Diesem Thema hat Greenblatt bereits seine durchdringende Untersuchung „Hamlet im Fegefeuer“ gewidmet. Jetzt geht es um Hamlets (Shakespeares) Vater, um die Geistererscheinung, in der Greenblatt das verbotene Verlangen entdeckt, mit dem geliebten Toten noch verbunden zu sein. Greenblatt macht uns deutlich, wie eine rituelle Struktur zerbricht, die hilft, mit schweren Verlusten fertig zu werden. Jetzt gilt nur noch sola fide, allein durch den Glauben. Aber wer glaubt schon so fest, dass er der tröstenden Übergangsrituale entraten kann?

Unversehens sind wir mit Greenblatt bei einer modernen Fragestellung gelandet. Aber eben nicht dadurch, dass allgemein Menschliches beschworen, dass das (mutmaßliche) Schicksal des Menschen Shakespeare ins Zeitlose, damit auch heute Gültige gerückt wird. Sondern vermittels einer peniblen Lektüre elisabethanischer Texte und des Studiums überlieferter religiöser Praktiken. Schon in seiner ersten Arbeit, den „Verhandlungen mit Shakespeare“ hat Greenblatt über sein und unser Verlangen geschrieben, „mit den Toten zu sprechen“. Aber er fügte hinzu, „das Gerede der Toten ist, wie mein eigenes, kein Privateigentum“. Weshalb die Frage, ob sich in Wirklichkeit Shakespeares Leben in gänzlich anderen Bahnen abgespielt hat, als es uns Greenblatts Biografie so scharfsinnig nahe legt, etwas von ihrer bohrenden Penetranz verliert.

Stephen Greenblatt: „Will in der Welt. Wie Shakespeare zu Shakespeare wurde“. Aus dem Amerikanischen von Martin Pfeiffer. Berlin Verlag, 2004, 507 Seiten, 24,90 €