Utopie Kreuzberg

Mehrheitsgesellschaft? Das ist doch das Schweinesystem! Kleine Erinnerung daran, dass die deutsche Linke sich lange Zeit von Parallelgesellschaften berühren ließ

Gerade als Kreuzberger kommt es einem merkwürdig vor, dass nun allerorten von Mehrheits- und Parallelgesellschaften die Rede ist. Wenn diese Fachtermini wenigstens noch ironisch gebraucht werden würden! Aber das werden sie nicht, und das erscheint einem vielleicht nicht durchgedreht, aber doch sehr seltsam – wenn man daran denkt, aus welchen Gründen man selber vor 20 Jahren nach Berlin gekommen war.

Damals war es ja völlig klar, dass man nach Berlin gehen würde. Berlin war die attraktivste Stadt Deutschlands, auch weil es eigentlich gar nicht zu Deutschland gehörte. Und Kreuzberg war das Synonym für das, was einem an Berlin gefiel: ein gallisches Dorf inmitten des bösen Systems; eine Gegend, zu der man wir sagen konnte; ein utopischer Ort, wie Christiania, in dem man meinte, ein anderes Leben anfangen zu können.

In den 80ern gab es an allen größeren Orten Europas kleine Orte der Utopie, die im roten oder schwarz-roten Kalender aufgelistet waren. Diese Orte waren Teile einer Alternativ- oder Parallelgesellschaft, mit der man sich identifizierte, die man auch im Urlaub gern besuchte: WGs, Buchläden, die oft „Roter Stern“ hießen, besetzte Häuser, Schwarzfahrerzentralen, Kneipen, Bioläden und wenn’s im Herbst nach Frankfurt ging, dann natürlich zur Alternativen Buchmesse. Kreuzberg war das Zentrum von dem Ganzen und die taz das Zentralorgan. Wer bei der taz war, war in erster Linie nicht Journalist oder Setzer, sondern tätig auf der Seite des besseren Lebens.

An die Revolution – zumindest im eigenen Land – glaubte kaum jemand; aber man dachte, man könne ein alternatives, nicht konsumistisches, nicht profitorientiertes Gesellschaftssystem in Kreuzberg errichten. In der Vorstellung vieler sollte Kreuzberg eine Art Christiania oder Auenland sein – nur größer. So ungefähr.

Für das, was jetzt Mehrheitsgesellschaft heißt, für die Ideologie des „Schweinesystems“ und seine Schergen, hatte man nur Verachtung übrig. Diese Verachtung verstellte den Blick darauf, dass man wohl doch größtenteils mit den liberalen Werten der Mehrheitsgesellschaft übereinstimmte. Viele Anarchisten, Freaks, Linke, Künstler, Hausbesetzer hatten in Kreuzberg versucht, sich in dem einzurichten, was heute unter Parallelgesellschaft läuft. Man hatte keinen Fernseher und wohnte mit anderen. Meist bewegte man sich unter seinesgleichen. Das Leben war billig. Nur ab und zu verließ man Kreuzberg, um Zigaretten an der Friedrichstraße zu kaufen, um zur Uni zu gehen oder zu Heinzelmännchenjobs. Kontakte zur türkischen Nachbarschaft gab es kaum. In der zweiten Hälfte der 80er implodierte das alles dann; der 1. Mai 1987 war der Vorbote des Endes dieser bunten Szene: Überführung der Revolution ins Spektakel.

Wenn man jetzt Linke, meinetwegen auch Exlinke (um den Ehrentitel nicht zu beschmutzen), von Parallel- und Mehrheitsgesellschaften reden hört, klingt das so komisch, weil man das Gefühl hat, dass sie ihre eigenen Parallelgesellschaftserfahrungen verleugnen würden; wie ein blöder Erwachsener, der nichts mehr davon wissen will, was ihn als Teenager mit gutem Grund am meisten berührte.

DETLEF KUHLBRODT