Die Gipfelstürmerin

Noch dezidierter als ihre bisherigen Romane ein Kunstroman mit starker romantischer Sehnsucht nach dem Gesamtkunstwerk: „Verlangen nach Musik und Gebirge“ von Brigitte Kronauer

VON MAJA RETTIG

Man kennt das: Man hat Zeit, ist zum Beispiel im Urlaub, vielleicht im belgischen Ostende, lässt sich „in ergebener Lähmung“ ein bisschen treiben und beobachtet, wird ganz Auge und Ohr. Sagen wir, man ist in eine zufällig zusammengewürfelte Hotelfrühstücksgruppe zwar keineswegs involviert, aber doch dabei und bleibt es eine Weile, weil man sich aus schierer Neugier nicht losreißen kann von diesen Menschen, die sich von Anfang an erotisch miteinander verstricken – so wie man auch von einer Seifenoper nicht lassen kann.

Dies die Ausgangslage in Brigitte Kronauers neuem Roman „Verlangen nach Musik und Gebirge“; sie könnte gewöhnlicher nicht sein. Und ist doch Rahmen für einen Roman über die Gipfel der Kunst und der Liebe – mithin eine konsequente Fortschreibung des Werks von Brigitte Kronauer.

Der Kontrast zwischen dem Banalen und dem Erhabenen ist darin tief verwurzelt; ihre Faszination für Zweideutigkeit hat Brigitte Kronauer zuletzt in ihrem gleichnamigen, 2002 erschienenen Essayband dokumentiert. In „Verlangen nach Musik und Gebirge“ liegt die Ambivalenz in der Erzählperspektive begründet. Es sieht, hört und erzählt eine am Geschehen beteiligte Figur, aber der Blick dieser Erzählerin ist so genau und so umfassend, sie selbst gleichzeitig persönlich so unbeteiligt, dass sie auktoriale Funktionen des Erzählers übernimmt – zumal sie womöglich in der Fantasie verlängert, was sie nicht direkt beobachtet.

Für diese besondere Erzählsituation hat Brigitte Kronauer ein innovatives Erzählpronomen eingesetzt: die distanziert-allgemeine Form „man“. Wo der Kontext es erfordert, wird „man“ zu „Frau Fesch“ – der Name steht aber auch im Text in Anführungszeichen, ist eine Spiel-Identität, und immer bleibt das Ich dahinter spürbar, auch wenn es sich bis zum Verschwinden versteckt.

Was sieht dieser irritierend schillernde Blick? Zentrum des Begehrens ist ein minderjähriges italienisches Pärchen, sie schön, mit „verhangen dösendem Tiergesicht“, er gebräunt und muskulös. Auf sie hat es ein Roy Neutling abgesehen (aber ach, nicht nur er), unbehauener Neuling der Liebe, bereits von ihrem, Sonias, ersten Augenschein getroffen und „hinterrücks zermalmt“. Hinter ihm, Maurizio, ist ein alternder belgischer Parfümeriehändler her, der unbestrittene Anführer der Gruppe, gesellschaftlicher und erotischer Zeremonienmeister. Am Ende der zwei erzählten Tage wird sich das italienische Traumpaar je anderweitig verlustiert und ein fassungsloser Verschmähter fast einen Mord begangen haben.

Frau Fesch sieht davon nur die Anfänge, jene verräterischen Gesten, begehrlichen Blicke, das wortlose und wortreiche Wittern. Wie auf einer Bühne verfolgt sie die Ein- und Ausübung des „erotischen Einmaleins“, dieses Taktieren, Antäuschen, Gleichgültigtun; sieht die Euphorien, Enttäuschungen und hysterischen Ängste, je nach gewährter oder entzogener Aufmerksamkeit. All das geschieht unter dem Deckmantel von Frühstückskonversationen, Strandspaziergängen, Museumsbesuchen, in vollkommener gesellschaftlicher Contenance: „Das soziale Grimassieren klappt von allein.“

Die Erzählerin registriert es mit vornehmem Spott. Sie versieht „ihre“ Figuren mit Spitznamen, die ins Karikaturistische gehen, „Bodyguard Maurizio“ oder „Stuntman Roy“. Der Spott über diese Seifenoper ist das eine, andererseits versteht sie als Erzählerin alle Figuren ja allerbestens, geht es doch auch hier um die universelle „Weltentzündung“ durch Liebesverrücktheit, „ein todernstes Sichversteigen“ – am „immer identischen Nächstbesten“.

Brigitte Kronauers glasklar-präziser und zugleich feierlich-beschwingter Stil zeichnet die vielfältigen Erregungen minutiös nach. Diese Sprache ist selber schon Erregungsprosa, Worte überrumpeln, poetisieren und dramatisieren, erzeugen dabei auch durchaus absurden Witz und analysieren dann wieder kühl und ironisch. Was alle wollen im erotischen Geschäft, ist, in maßloser Erwartung, das „hochelektrifizierte Jetzt“, den „Abglanz des Totalen“. Das nun vereint die Liebe mit der Kunst, die im Roman in allen drei Disziplinen vertreten ist: als Malerei, als Literatur und als Musik. So wie die graue Stadt Ostende nichts wäre ohne die Farben ihres Malers James Ensor, so ist „die Welt nur zu ertragen als Begleitumstand einer Liebe“.

Literarische Bezugsgröße ist, wie von jeher, Joseph Conrad. Die Erwähnung allein dieses Namens beschert der Erzählerin stärkeres Herzklopfen als die direkt sexuellen Blicke eines Passanten – und genau diese Erregung an und in der Kunst macht „Verlangen nach Musik und Gebirge“, noch dezidierter als die bisherigen Romane von Brigitte Kronauer zu einem Kunstroman: mit starker romantischer Sehnsucht nach dem Gesamtkunstwerk, worauf nicht nur Nietzsche-Titel und -Motto hindeuten, sondern auch die Integration eines Opernlibrettos in den Romantext. Denn drittens, die Musik: In der Oper erzwingt sie die Liebe und das Wort, die Literatur.

Die Vereinigung von Wort und Musik strebt die Erzählerin auch im Konkreten an. Ihr zweitägiges Beobachten fremder Leute war eigentlich ein Zeittotschlagen, sehnendes Warten auf den, der ihr Libretto vertonen soll, Komponist und Geliebter in einer Person. Die ganze Seifenoper war damit eben auch Oper, die Stuntmen und Bodyguards in all ihrer Lachhaftigkeit waren Masken ihrer selbst, irritierende Multiplikationen des eigenen Liebesfalls, wie Opernchöre. Am Ende dann also doch noch die Liebe in ganz eigener Sache, und da wird der Roman zur Arie: „Um Himmels willen, das Schiffschiffschiff!“ – darin Er! – „als Einziger hat er den Schlüssel zu ihrem He-, zu ihrem Herz-, zu ihrem Herzen.“

Brigitte Kronauer: „Verlangen nach Musik und Gebirge“. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2004, 389 Seiten, 22 Euro