Halbzeit

Unablässig steigt die Sonne höher und höher. Als fände der Aufstieg nie ein Ende. Dann plötzlich: der „Mittagsumsturz“! Von nun an geht’s bergab, auch beim Menschen: Der Lack ist ab. Die Krise kommt meist unvorhergesehen

VON HERBERT BECKMANN

Er hatte schon in jungen Jahren das Unternehmen seines Vaters geerbt und es mit einigem Erfolg weitergeführt. Ein Bär von einem Mann, groß, breitschultrig, stechende blaue Augen in einem kantigen, albinoweißen Gesicht. Der Mann war Mitte vierzig, als wir miteinander sprachen, und beiläufig erzählte er mir davon, dass man vor kurzem Krebs bei ihm festgestellt habe. „Aber das ist kein Problem.“

Die Betroffenheit war ganz auf meiner Seite. Er dagegen sprach von seinen Geschäften im In- und Ausland, von Bilanzen und Aktien und wollte auch von mir nichts, buchstäblich nichts anderes wissen, als wie es finanziell um mich stehe. Er fragte hartnäckig, mit sichtlichem Vergnügen am Vergleich. Sein Krebs, der sich irgendwo da drinnen durch seinen Magen fraß, der Anus praeter, der auch in diesen Sekunden seinen Plastikbeutel am Bauch weiter mit Ausscheidungen füllte, schienen für ihn gar nicht vorhanden zu sein.

Er lebte, und zwar im Wohlstand, die Geschäfte florierten, es würde immer so weitergehen.

Dagegen er, ein anderer Vierziger. Ein klappriges Gestell von einem Mann mit großen, sanften braunen Augen und zittrigen Händen. Er hatte ein Leben voll Reisen und Wanderschaft verbracht, war in Afrika, Asien, Amerika gewesen, hatte in Marseille und Amsterdam, Kopenhagen, Berlin, Goa, Kabul und San Francisco gelebt. Was wusste er von diesen Reisen und Aufenthalten in fremden Ländern zu erzählen? Dass der Shit an jenem Ort miserabel, an einem anderen dagegen hervorragend gewesen sei, wie viel das Dope hier und was es dort gekostet habe, wo man ihn „abgelinkt“ und wo man ihn „okay“ beim Deal behandelt habe.

Seine Erinnerungen beschränkten sich ganz und gar auf alles, was mit Drogen zu tun hatte. Sonst hatte er scheinbar nichts erlebt. Er konnte sich nicht an die Farbe des Himmels über Marokko erinnern, wo er drei Jahre seines Lebens offenbar bekifft zugebracht hatte, er hatte in ganz Indien anscheinend nur Drogenverkäufer kennen gelernt, gelegentlich war er auch mal verliebt, aber in wen, daran erinnerte er sich nicht mehr genau. Die Welt, ein bunter Drogencocktail.

Der Vierziger aus der Mitte und der Vierziger vom Rande der Gesellschaft. Ich erwähne sie, weil mir ihre eingefahrene Welt- und Selbstwahrnehmung näher sind, als mir lieb ist. Aber hinter der zur Schau getragenen Selbstgewissheit, in einem verschlossenen Winkel ihres Bewusstseins, sage ich mir, müssen doch auch sie einige existenzielle Fragen bewegen: War das wirklich schon alles? Was hält das Leben für mich noch bereit? Hätte nicht auch alles ganz anders kommen können? Wie war das damals, als ich mich entschloss …?

Die mittleren Jahre verlaufen entgegen dem Klischee äußerlich oft gar nicht krisenhaft. Sondern auffällig unauffällig. In Wahrheit, so befand Hermann Hesse, bereitet sich eine „Häutung“ vor, „ein ausgewachsenes Kleid will abfallen“. Mit seinem „Steppenwolf“ hat er den Roman des zwanzigsten Jahrhunderts zur Krisis des mittleren Lebensalters geschrieben, doch wiederentdeckt wurde das Buch bekanntlich von den Drogenfreaks der Jugendbewegung in den Sechzigerjahren. Heute tritt diese Generation der 68er bereits ihr letztes Lebensdrittel an und hat, wie man vielfach hören kann, sich in der Zwischenzeit heftig geschämt, Hesse je gelesen zu haben.

Das ist verständlich, denn Hesse ist der Dichter des persönlichen Aufbruchs und der individuellen Veränderung. Man wird im Alter nicht gerne an die eigenen großen (An-)Sprüche der Jugend erinnert. Schon gar nicht von den einstigen Idolen. In den Wissenschaften hat man die Lebensmitte lange Zeit höflich ignoriert. Bis C. G. Jung kam, der Schweizer Psychoanalytiker. Doch auch seine Erkenntnisse aus den Dreißigerjahren wurden vier Jahrzehnte lang kaum beachtet. Bis in den Siebzigerjahren schlagartig, wie aus heiterem Himmel, von Amerika aus das Zeitalter der „Midlifecrisis“ ausgerufen wurde. Menschen in jenem beklagenswerten Alter, damals die Jahrgänge der etwa zwischen 1930 und 1940 Geborenen, wurden plötzlich zuhauf befragt zu ihren Problemen, doch neue Erkenntnisse ließen sich daraus nicht ableiten.

Bis heute ist C. G. Jungs Diagnose vom „Mittagsumsturz“ daher unwiderlegt gültig: „Denken Sie sich eine Sonne, von menschlichem Gefühl und menschlichem Augenblicksbewusstsein beseelt. Am Morgen entsteht sie aus dem nächtlichen Meere der Unbewusstheit und überblickt nun die weite, bunte Welt in immer weiterer Erstreckung, je höher sie sich am Firmament erhebt.“ So erreicht die Sonne schließlich die unvorhergesehene Mittagshöhe – „unvorhergesehen, weil ihre einmalige individuelle Existenz ihren Kulminationspunkt nicht vorherwissen konnte. Um zwölf Uhr mittags beginnt der Untergang. Und der Untergang ist die Umkehrung aller Werte und Ideale des Morgens. Die Sonne wird inkonsequent. Es ist, wie wenn sie ihre Strahlen einzöge.“

Doch warum tut sie das, die Sonne? Die Angst vor dem Tod, der nicht mehr ganz so undenkbar fern scheint wie noch in der Kindheit und im Jugendalter, ist in der Regel noch weit weg und darum abstrakt. Es ist (meint Jung) nicht der Blick nach vorn, der verunsichert, sondern der Blick zurück auf das abgelebte Leben, das – egal, wie es verlaufen ist – „auf Kosten der Totalität der Persönlichkeit“ ging: „Viel, allzu viel Leben, das auch hätte gelebt werden können, blieb vielleicht in den Rumpelkammern verstaubter Erinnerung liegen, manchmal sind es auch glühende Kohlen unter grauer Asche.“

Ich war Mitte dreißig und noch gestern ein überzeugter junger Wissenschaftler gewesen, als mich plötzlich eine unerklärliche Unruhe packte. Ich erinnerte mich eines Tages an meine Zivildienstzeit und wünschte mir auf einmal, wie damals Behinderte zu betreuen. Ich begriff nicht, dass ich diesen uralten Berufswunsch so völlig aus den Augen verloren hatte. Noch während ich mich ernsthaft nach einem Sonderpädagogikstudium umsah und im Vorlesungsverzeichnis blätterte, überkam mich plötzlich die Lust, Niederländisch zu studieren, als Dolmetscher zu arbeiten, so wie ich es mir damals als Jugendlicher, aufgewachsen an der deutsch-holländischen Grenze, erträumt hatte.

Kaum hatte ich diese neue Möglichkeit erwogen, lernte ich einen ungewöhnlich engagierten Berufsschullehrer kennen, der mich daran erinnerte, dass auch ich mit Anfang zwanzig einmal den gleichen Berufswunsch gehabt hatte. Doch damals hatte ich mich für ein Germanistikstudium entschieden, das ich ein Semester später wieder schmiss.

Warum eigentlich?, durchzuckte es mich nun, anderthalb Jahrzehnte später. Mir fiel ein Seminar über Geistergeschichten ein, das mir damals doch großen Spaß gemacht hatte, und ich war plötzlich überzeugt, dass in der Literaturwissenschaft meine wahre Bestimmung lag. Beinahe täglich entflammte ich für einen neuen Weg, den einzuschlagen das einzig Wahre, Schöne und Gute für mich war. Am Ende tat ich von alldem nichts, sondern schrieb stattdessen wie ferngesteuert meine Doktorarbeit: summa cum dumma.

In den Industriestaaten haben gegenwärtig Frauen im Durchschnitt 81 Jahre zu gewärtigen, Männer sieben weniger. Das ist noch eine ganze Menge Lebenszeit, von der Lebensmitte aus gesehen. Die Frage ist nur: Wofür lohnt es sich zu leben? Soll man beruflich noch mal durchstarten, etwas ganz anderes machen, irgendwo ganz neu anfangen, eine Familie gründen, Kinder kriegen, falls noch nicht vorhanden? Das sind so die stillen Fragen um vierzig rum. Oder soll man einfach nur Spaß haben, und vor allem:

Sex?

Ein Hormonspezialist riet kürzlich im Fernsehen einer ratlosen sechzigjährigen Frau, die ihren Mann nachts vergeblich auf sich aufmerksam zu machen versuchte, sie solle es besser morgens probieren, denn dann sei seine Hormonlage für die sexuelle Libido günstiger gestimmt. Der Arzt hat Recht, ich kann ihn aus eigener Erfahrung bestätigen. Am Abend, erst recht in der Nacht, bin ich herzlich müde und entwickle ein immenses Kuschelbedürfnis – aber Sex? Nein danke, gute Nacht!

Morgens hingegen, vorausgesetzt, ich bin ausgeschlafen, spüre ich den Lenz und alle Säfte sprießen – zu jeder Jahreszeit. Bloß, meistens muss ich an die Arbeit gehen. Die Sexualität ist schließlich kein Privileg der Jugend. Das Verlangen bleibt und die Fähigkeit, so viel steht fest, in den meisten Fällen auch. „Weder Männer noch Frauen müssen ihre geschlechtlichen Beziehungen aus Altersgründen aufgeben“, weiß Erwin Haeberle, der alte Sexualwissenschaftler. Die „sexuelle Reaktion“ bleibe prinzipiell die gleiche. Das ist beruhigend. Aber noch nicht die ganze Wahrheit.

Bei den Männern geht es alles in allem langsamer und bei den Frauen auf die Dauer etwas weniger feuchtfröhlich zur Sache. Das ist ungewohnt und kann einen anfangs ziemlich erschrecken. Aber weder das eine noch das andere, beruhigen uns die Sexualexperten, muss die Sexualität beeinträchtigen. Wer fleißig übt, allein oder mit anderen, kann Sex haben bis ins hohe Alter. Vorausgesetzt, wir bleiben gesund und, wichtiger noch, fit.

Fitness und Wellness stehen ganz oben auf der Agenda. Auch für Männer. Sie schützen gegen Midlifecrisis und sorgen dafür, dass er groß und stark bleibt. Was meinen Körper betrifft: Der Lack ist ab. Aus ihm wird nie mehr ein „Body“ werden. Während andere Vierziger frühmorgens bereits an ihrer Muskelmasse arbeiten, bin ich schon froh, wenn ich aus dem Bett komme. Bei mir knirscht es im Gebälk, wenn ich nur versuche, mich zu strecken. Seit fünf Jahren treffe ich mich deshalb wöchentlich mit Alters- und Leidensgenossen im „Gesundheitspark“. Mehr grün vor Neid als rot vor Anstrengung beobachten wir mittelgrauen Männer dort die jungen, drahtigen Trainer, die uns linkshändig helfen aufzustehen und dabei rechtshändig noch die Hantel schwingen.

Auch sonst kann ich klagen: Täglich kämpfe ich gegen mein Übergewicht, doch jedes Jahr zu Weihnachten kriege ich ein neues Kilo dazugeschenkt. Wenigstens hat das Fett den Vorteil, dass sich das Gesicht nicht schon jetzt in Falten legt wie ein Chagrinleder.

HERBERT BECKMANN, 44, lebt als Psychologe und Autor in Berlin. Er schreibt Bücher und Radiogeschichten für Kinder und Erwachsene