„Diese Akte ist von unschätzbarem Wert“

Im Zweiten Weltkrieg nahm Brasilien verfolgte Juden auf. Danach aber auch Altnazis. Der Rabbiner Henry Sobel aus São Paulo glaubt, der Fall Mengele werde junge Brasilianer dazu bringen, sich mit dem Holocaust zu beschäftigen

taz: Herr Sobel, was erhoffen Sie sich von den Mengele-Dokumenten, die jetzt aufgetaucht sind?

Henry Sobel: Für die Brasilianer, die nach dem Zweiten Weltkrieg geboren wurden und nicht die geringste Ahnung von der Tragödie des Holocaust haben, ist diese Akte von unschätzbarem pädagogischem Wert. Aber nicht nur für diese Generationen – generell wissen die Brasilianer einfach nicht, was in jener düsteren Epoche passiert ist. Jetzt kommt der Fall wieder auf die Tagesordnung.

Aber viel wirklich Neues bringen die Dokumente doch nicht, oder?

Das ist zweitrangig. Für mich ist wichtig, dass man in Brasilien wieder über das Monster Mengele spricht, um eine Wiederholung solcher Verbrechen auszuschließen. Nicht nur in Argentinien, sondern auch in Brasilien haben viele Nazis Zuflucht gefunden. Etwa Franz Stangl, der KZ-Kommandant von Sobibor, und sein Stellvertreter Gustav Wagner. Oder eben Mengele. Brasilien war ein Paradies für die Nazis, die aus Europa flohen, ein riesiges Land, in dem sie sich leicht verstecken konnten.

Warum konnte Mengele unbehelligt 19 Jahre lange in São Paulo leben?

Das ist unverständlich. Der Mann reiste auf Inlandsflügen unter seinem eigenen Namen, nicht nur unter dem falschen Namen, der in seinen Papieren stand. Weder der Mossad noch die US-Geheimdienste haben das mitgekriegt. Man kann nicht annehmen, dass sie sich nicht in den Fall einmischen wollte, es ist unverständlich. Als Mengeles Leiche gefunden wurde, habe ich mir genau diese Frage gestellt. Und 20 Jahre später stelle ich sie mir immer noch.

Manche vermuten, dass zwischen der Exhumierung der Leiche 1985 und der DNA-Analyse 1992, mit der der Fall offiziell abgeschlossen wurde, eine Manipulation stattgefunden haben könnte …

Das halte ich für möglich, ja sogar für wahrscheinlich. Aber ich habe auch nur Hypothesen.

Könnte die brasilianische Debatte um Mengele auch ein Beitrag zur Diskussion über die Öffnung der Archive aus der Militärdiktatur sein?

Das deutsche Naziregime und die brasilianische Militärdiktatur waren zwar unterschiedlich, aber es gibt einen gemeinsamen Nenner: die Verletzung der grundlegenden Menschenrechte. Beide Regime wollten die Freiheit, die Demokratie, die Gerechtigkeit ersticken. Deshalb kann die Öffnung sämtlicher Archive die Demokratie nur stärken.

Aber warum tut sich Präsident Lula so schwer damit, etwa im Gegensatz zu Néstor Kirchner in Argentinien?

Das ist wirklich schade. Sicher wird Lula sehr vom militärischen Establishment unter Druck gesetzt, das noch relativ mächtig ist. Zusammen mit der Staatsanwaltschaft und dem Justizministerium beharren wir darauf, dass die Archive geöffnet werden. Lula spielt auf Zeit, aber bald wird er nachgeben, das weiß ich aus sicherer Quelle.

Beeinträchtigen die Altnazis in Brasilien heute noch immer das Leben der Juden?

Nein, die Nazi-Generation stirbt. Für die Psyche der hier lebenden deutschsprachigen Juden und ihrer Nachkommen spielen sie immer weniger eine Rolle. Die deutschstämmigen Juden haben Brasilien viel zu verdanken. Das Kameradenwerk – eine nicht sehr ausgefeilte Hilfsorganisation für Nazis auf der Flucht – ist Teil der Vergangenheit. Die Gegenwart und die Zukunft ist eine jüdische Gemeinschaft, die sich nicht nur in die brasilianische Gesellschaft integriert, sondern auch die eigenen Traditionen aufrechterhält.

INTERVIEW: GERHARD DILGER