Mengele ist jetzt auf der Titelseite

Die Beziehungen der Machthaber zu den Altnazis waren in Brasilien bisher kaum Thema. Der Fund des Nachlasses des KZ-Arztes könnte das ändern

In Brasilien mehren sich die Stimmen, die eine Öffnung der Archive fordern

AUS PORTO ALLEGREGERHARD DILGER

Gestern platzten die im Oktober gefundenen Dokumente des KZ-Arztes Josef Mengele mitten in die politische Debatte in Brasilien. „Mengele lobte die Repression der Diktatur“, titelte die Tageszeitung Folha de São Paulo, die seit einer Woche häppchenweise aus den insgesamt 86 Schriftstücken zitiert.

Im April 1969 schrieb Mengele offenbar seinem Neffen und Stiefsohn Karl-Heinz einen 13 Seiten langen Brief, der der taz vorliegt. Darin lässt sich der so genannte Todesengel von Auschwitz über die Studentenbewegung in Europa und Brasilien aus, die „moderne Literatur mit allen ihren Afterkünsten: Film, Fernsehen, Theater, usw.“ und eine angebliche jüdische Weltverschwörung im Medienbereich.

„In den mehr oder weniger autoritären Regimen wurden diese Studentenprobleme verhältnismäßig schnell und befriedigend gelöst, da man gleich erkannte, welch intensive und mächtige politische Agitation hinter diesen Unruhen und Protestkundgebungen der akademischen Jugend steckt“, schrieb Mengele. In Brasilien habe man „einen studentischen Führerkongress, der heimlich auf einem Landgut tagte (und nächtigte) ausgehoben und die zweihundert Männlein und Weiblein mit Omnibussen in ein hauptstädtisches Gefängnis gebracht. Dort hat man zirka 50 kommunistische Radaubrüder herausgefischt und die anderen wieder laufen lassen. Seitdem gibt es keine Studentenunruhen mehr.“

Die Razzia vom Oktober 1968 im Hinterland von São Paulo ging der brutalsten Phase der Militärdiktatur (1964–1985) unmittelbar voraus. Brisanz gewinnt diese Passage, weil sich unter den damals über 920 Festgenommenen mehrere Spitzenpolitiker befinden: José Dirceu, heute als Präsidialamtsminister die rechte Hand von Präsident Lula, José Genoino, der Chef der Arbeiterpartei PT, der Sozialdemokrat José Serra, der soeben zum Bürgermeister von São Paulo gewählt wurde, oder Cesar Maia, Bürgermeister von Rio und konservativer Präsidentschaftsanwärter für 2006.

Vor allem jedoch, weil der Umgang mit der Militärdiktatur seit sechs Wochen ganz oben auf der politischen Agenda steht. Die Tageszeitung Correio Brasiliense hatte am 17. Oktober drei Bilder publiziert, die angeblich einen im Oktober 1975 ermordeten Journalisten als nackten, verzweifelten Gefangenen zeigten. Daraufhin verteidigten die Streitkräfte wortreich den Putsch von 1964.

Lula erzwang die Rücknahme der Erklärung, anstatt der Heeresleitung wechselte er jedoch den Verteidigungsminister aus. Seither werden Militärs noch deutlicher hinterfragt denn je zuvor, und die Stimmen nach einer Öffnung der Diktaturarchive mehren sich (siehe Interview). „Ohne Druck von unten wird daraus nichts, denn die Eliten verständigen sich immer“, sagt der Schriftsteller Deonísio da Silva. Nicht nur im Verhältnis zu den Militärs bescheinigt er Lula eine „tiefe Ambivalenz“. Im Gegensatz zu Argentinien seien auch die Beziehungen der brasilianischen Machthaber zu den Altnazis kaum erforscht, bedauert da Silva.

Seit Jahren ist allerdings bekannt, dass die brasilianische Botschaft in Berlin NS-Funktionären den Weg nach Brasilien ebnete, während die Einwanderung für Juden begrenzt blieb. Er wünscht sich ein Pendant zur hochgelobten Studie „The Real Odessa: How Perón brought the Nazi War Criminals to Argentina“ (2002), deren brasilianische Ausgabe der argentinische Journalist Uki Goñi heute in Rio vorstellt. Der Werdegang Mengeles „sagt viel über uns aus“, meint Goñi. Bildung oder Reichtum seien kein Schutz vor „Grausamkeit im Reinzustand“. 1943 bis 1945 stellte er in Auschwitz Menschenversuche an, schickte Zehntausende in die Gaskammer. 1949 flüchtete er nach Argentinien, 1959 nach Paraguay und ein Jahr darauf nach Brasilien.

Uneinsichtig zeigte sich der Günzburger Fabrikantensohn bis zuletzt, das belegen die jetzigen Funde erneut. In einem Verriss der „Erinnerungen“ des NS-Rüstungsministers und Architekten Albert Speer gibt sich als bedingungsloser Hitler-Fan: „A. H. als einen megalomanen Bauherrn“ zu karikieren, beweise lediglich die Unfähigkeit Speers, das „Drängen und Wollen des genialen Auftraggebers zu verstehen und künstlerisch zu bewältigen“.

Speers Büchern hätte der KZ-Arzt gern seine eigenen Memoiren entgegengesetzt. Er plane einen „autobiografischen Roman, der das Leben eines Mannes erzählt, der von seiner Zeit in besonderer Weise geprägt wurde“, schrieb er 1976 an seinen Sohn Rolf.

Doch daraus wurde nichts. Bei einem Brasilien-Besuch stellte Rolf Mengele 1977 fest, dass sein Vater nicht bereit war, über seine Kriegsjahre zu sprechen. Zu dem Zeitpunkt hatte er bereits 17 Jahre lang unbehelligt in São Paulo gelebt, zuletzt unter der Identität des früheren Hitlerjungen Wolfgang Gerhard aus Österreich. In einem Brief an seinen Protektor erwähnte er zynisch „das schöne Lied über die drei Juden, das ich aus Reue über die unzähligen Verbrechen, die wir an diesem auserwählten Volksstamm begangen haben, lieber nicht wiedergeben will“.

1979 starb Mengele offenbar an einem Schlaganfall im Meer. Doch erst 13 Jahre später einigten sich die Behörden aus Deutschland, den USA und Israel nach einer DNA-Analyse darauf, dass seine Gebeine tatsächlich gefunden waren.