Die Geburt der Poesie aus dem Geist der Maschine

Schriften zu Zeitschriften: Soll der Mensch den Computer oder der Computer den Menschen verstehen? Aufsätze von Max Bense und Hans-Jost Frey

Zuse Z 22 plaudert zu Kafkas „Schloss“ drauflos: „Kein Blick ist neu. Jeder Weg ist nah. Nicht jedes Schloss ist leise …“

In Stanley Kubricks „2001. Odyssee im Weltraum“ gibt sich der Computer HAL 9000 zu Anfang ganz leutselig: „Ich arbeite gern mit Menschen zusammen“, versichert er, bevor es im Raumschiff zum tödlichen Showdown mit der Besatzung kommt. Regressive Sehnsucht wie heimliche Furcht, in denkenden Maschinen ein unberechenbares menschliches Gegenüber vorzufinden, haben sich bis heute nicht erfüllt. Warum auch? Die Begegnung von Mensch und Maschine soll sich im Zeitalter ihrer kommerziellen Verwertung möglichst angstfrei gestalten.

„Modern ist, wer seinem Zeitalter gewachsen ist“, schrieb 1946 der Physiker und Kunsttheoretiker Max Bense (1910–1990). Mit Band 5/2004 legt die Reihe „Kaleidoskopien“ jetzt eine Retrospektive auf Benses theoretisches Werk und die Arbeiten seiner Schüler vor. Bense hat als einer der deutschen Pioniere des Computerzeitalters eine informationstheoretische Grundlegung der Ästhetik entwickelt. Denn ihm zufolge muss sich der Mensch der Technik stellen, um „jene neue Stufe der abendländischen Rationalität“ zu gewinnen, von der aus man sich zu der Welt, „die zu bewohnen wir gezwungen sind“, in ein Verhältnis setzen kann und nicht bei moralisierender Kulturkritik oder metaphysischen Weltbildern stehen bleibt.

Bense stellte sich das also nicht als beschaulichen Zusammenklang von Laptop und Lederhose vor. Es gehe darum, so Bense, „eine technologische Auffassung dessen“ zu entwickeln, „was wir ,Darstellen‘ nennen“, um sie der „technologischen Auffassung des Denkens“, die „Mathematik und Logik ineinander überführt hat“ und aus der auch die elektronischen Rechenmaschinen hervorgegangen sind, zur Seite zu stellen. Nicht nur die Maschine als reines Produkt der menschlichen Intelligenz solle sich daher zum Denken des Menschen herablassen, sondern der Mensch sich zugleich dem Denken der Maschine annähern: „Eine noch tiefer liegende Partnerschaft lässt sich kaum denken, ganz abgesehen davon, dass sie unsere metaphorische Redeweise von der Geburt der Poesie aus dem Geist der Maschine fast sachlich rechtfertigt“, schreibt Bense 1971.

Bereits in den Fünfzigerjahren formuliert Bense eine rationale Ästhetik, die sich gegen eine auf Bedeutung beruhende Literaturauffassung richtet und Sprache als reines Material und statistisches Zeichenrepertoire versteht. Auch dieses von aller Geschichte gereinigte Formkonzept der Konkreten Poesie hat seine Geschichte: Es entsteht in einer Gesellschaft, die dem Bedeutungsmissbrauch ihrer totalitären Vergangenheit erst einmal entkommen will. Benses Doktorand Theo Lutz programmiert zu dieser Zeit am Großrechner Zuse Z 22 stochastische Texte. Als Materialbasis dient Kafkas Roman „Das Schloss“. Munter fabuliert der Z 22 drauflos: „Kein Blick ist neu. / Jeder Weg ist nah. Nicht jedes Schloss ist leise. / Kein Tisch ist schmal und jeder Turm ist neu.“ Lutz hoffte damals, „dass das Misstrauen mancher traditionsgebundener Philologen gegen die Errungenschaften moderner Technik recht bald einer breiten und fruchtbaren Zusammenarbeit Platz macht“.

Doch auch 2004 bleiben solche philologischen Vorbehalte aktuell. In der Oktoberausgabe der Schweizer Poetikzeitschrift Zwischen den Zeilen erläutert der Züricher Komparatist Hans-Jost Frey am Beispiel der dichterischen Metapher, warum er ein zeichentheoretisch operationalisierbares Sprachverständnis für Unsinn hält. Dafür zitiert er Hölderlin: „Sonnenschein / Am Boden sehen wir und trockenen Staub / Und heimatlich die Schatten der Wälder und es blühet / An Dächern der Rauch“.

Frey zufolge versteht man die Metapher noch nicht, wenn man nur feststellt, dass hier der Rauch mit einer Blume verglichen wird, sondern erst, „wenn die Beziehung zwischen Rauch und Blume als solche bedeutend wird“. Die Metapher ist unübersetzbar, weil ihr „Erkenntniswert“ aus einem semantisch unlösbaren Spannungsverhältnis resultiere, das nicht im sprachlichen Zeichen aufgehe, und sie zudem durch einen „Gefühlswert“ beim Sprecher als einem emotional zeitverzögert erkennendem Subjekt motiviert sei. Solange Computer davon nichts verstehen, haben sie hier noch das Nachsehen. JAN-HENDRIK WULF

Kaleidoskopien, Band 5/2005, 15 EuroZwischen den Zeilen, Oktober 2004,17 Euro