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So klug kann Nachmittagsfernsehen sein: Die Vox-Serie „Gilmore Girls“ lebt und zitiert Popkultur zugleich (werktags 16.05 Uhr)

VON CLEMENS NIEDENTHAL

Manchmal sprießen im deutschen Fernsehwald gar wunderliche Pflänzchen in ansonsten recht karger Fauna. Werktag nachmittags um kurz nach vier zum Beispiel. Da senden die großen Privaten ihre notorischen Gerichtshows. Und eine notorisch ideenarme öffentlich-rechtliche Sendeanstalt „Bianca“, ein zur Fernsehserie geronnenes Groschenheft. Dann aber auch kann man ausgerechnet auf Vox Sätze wie diesen hören: „Im Vergleich zu deiner Mutter wirkt der Sänger von Joy Division wie ein aufgekratzter Teletubby.“

Nur zur Erinnerung: Joy Division war eine morbide und für das, was man dann später Britpop nannte, ziemlich stilprägende Kapelle aus Manchester, die in all den Achtziger-Retroshows vergessen wurde. Zu tiefgründig und zu vielschichtig waren die für jene flüchtigen medialen Oberflächen des mundgerechten Erinnerungsmarketings. In denen die Achtziger nur alleine für Joy standen. Kaum für Joy Division. Die „Gilmore Girls“ aber fordern solches Wissen ein.

Genauso, wie auf einmal ein Scherz damit getrieben wird, dass eine überspannte Studienbeginnerin wohl von einem Date mit Richard Sennett träumt. Wenn sie da so im Eliteuniversitätsbett liegt. Unter einem Noam-Chomsky-Poster. Das ist – um der Vergleichbarkeit willen – ungefähr so, als wäre die ehedem allseits beliebte und gerade erst mit einem „Emmy“ gewürdigte Vorabend-Lolle von „Berlin, Berlin“ nach Karlsruhe getrampt, um vor der Wohnung Peter Sloterdijks zu campieren. Eigentlich kein Thema für den Fernsehnachmittag.

Aber, wie gesagt, die „Gilmore Girls“ fordern solches Wissen und sicher auch ein diesbezügliches Wollen ihres Publikums heraus. Und sie halten die Widersprüche aus, die entstehen, wenn ein Serienformat vom Glanz der neuen Urban Stories einer Post-Sex-and-the-City-Epoche profitieren will. Und doch gleichzeitig den dazu notwendigen Metatext liefert. Anders gesagt: Die „Gilmore Girls“ kennen ihr eigenes Leben. Sie haben es selbst im Fernsehen gesehen.

Und die „Gilmore Girls“ gucken viel, ja eigentlich ständig Fernsehen. Genauso wie Tochter Rory – die eigentlich gleich ihrer Mutter, dem anderen „Gilmore Girl“, Lorelai mit Vornamen heißt – eigentlich ständig komplizierte Bücher liest und eigentlich ständig in einem Diner Apfelkuchen isst. Denn auch das sind die „Gilmore Girls“: gelebte, nein, erzählte Cultural Studies.

In den 45-minütigen Episoden ist alles wichtig, alles bedeutungsvoll, alles eine Erzählung wert. Kultur verstanden als „whole way of life“, wie Raymond Williams in den Fünfzigerjahren einen Leitsatz der Cultural Studies formulierte. Pop ja, gerne und viel. Aber eben nur als ein Teil eines Größeren und Ganzen. Einer komplexen Nahaufnahme jenes Kerry-Amerika, aus dem sich doch auch schlüssig ableiten lässt, warum George W. Bush die Wahl gewonnen hat. Denn das kleine Stars Hollow, in dem die „Gilmore Girls“ wohnen, ist eben auch ein Dorf namens USA.

Werden aber auch genügend Menschen hierzulande die in den USA tatsächlich außerordentlich erfolgreiche Serie sehen? Von April bis November diesen Jahres hat Vox in deutscher Erstausstrahlung die ersten vier Staffeln gezeigt. In den USA läuft seit September die fünfte Staffel, sie soll im nächsten Herbst auf Vox starten. Bis dahin werden nochmals die alten Folgen wiederholt. Quotenmäßig geben die „Gilmore Girls“ ein gemischtes Bild ab. Nach einem passablen Start mit durchschnittlich 470.000 Zuschauern konnte die Serie diese Zahl im Verlauf der Erstausstrahlung der vierten Staffel fast verdoppeln. Seit Beginn der Wiederholungen nähert man sich nun wieder den alten Zahlen an.

Statt der Quote müssen also die bezaubernden Gilmores die deutschen Fernsehmacher im Alleingang überzeugen. Mutter Lorelai und Tochter Rory, von denen die eine immer wieder die bezaubernde Jeanny imitiert. Und die sich beide immer wieder verlaufen zwischen glamourösen Höhen und existenziellen Absturzkanten. Die bei aller Medien- und Selbstreflexivität doch auch zu glaubhaften Geschichten finden. Oder zu welchen, die man gerne glauben würde. Wenn sich Rorys zarte zweite Liebe mit rostzerfressenem Vergaser aus dem Staub macht. Fast so wie die Helden aus Jack Kerouacs „On the road“.

Wieder so ein Stück amerikanische Popkulturgeschichte, das da auf Vox durch den Mixer gedreht wird. Werktag nachmittags um vier.