Das Mädchen, das zu viel hörte

Ayse Polats Film „En Garde“ gewann beim Filmfestival in Locarno den silbernen Leoparden und kommt am 9. Dezember in die deutschen Kinos. Ein Gespräch mit der Hamburger Filmemacherin über den Stellenwert von Freundschaft und die Angst, die das kaputt macht, wonach wir uns sehnen

Interview: Claudia Hangen

En Garde, der zweite Spielfilm der Hamburger Filmemacherin Ayse Polat, erzählt von der schwierigen Freundschaft zwischen zwei Heimmädchen: der 16-jährigen Alice und der Kurdin Berivan, gespielt von Maria Kwiatkowsk und Pinar Enricin, die dafür beim Filmfestival in Locarno den Preis für die beste Darstellerin bekamen. In Ayse Polats Film sind sie beide auf der Suche nach etwas, was für sie Heimat sein könnte. Ein Gespräch mit der Regisseurin.

taz: Frau Polat, was bedeutet für Sie Heimat?

Ayse Polat: Heimat ist ein Ort, wo ich sozusagen der Vergangenheit begegnen kann, der Kindheit, meinen Freunden, und da ich in Malatya geboren bin und bis ich acht war, dort gelebt habe, ist es ein Stück Heimat. Aber hauptsächlich ist Hamburg meine Heimat.

Vom Studienhintergrund sind Sie Germanistin, Kulturwissenschaftlerin und Philosophin. Wie kamen Sie zur Filmproduktion und zum Drehbuchschreiben?

Das Interesse, Filme zu machen, war vor dem Studium da. Bereits mit 17 Jahren war es so, dass ich mich einmal bei der Hamburger Filmhochschule beworben habe, abgelehnt wurde und meine Bewerbung dann nicht mehr wiederholt habe. Und dann habe ich Praktika in der Filmproduktion gemacht. Ich bin so reingerutscht, habe dann meinen ersten Kurzfilm geschrieben und eine Förderung beantragt und das Geld bekommen.

Wie kamen sie auf die Idee zu „En Garde“?

Es war eigentlich so: In der Straße, in der ich wohnte, gibt es ein Haus, wo Mädchen und Jungen wohnen, die im Heim groß geworden sind und diese Begegnung mit ihnen hat mich inspiriert. Die Begegnung bestand darin, zu beobachten und von ihnen zu lernen, dass Freundschaften für sie besonders wichtig sind. Sie waren eng befreundet und haben alles immer miteinander gemacht. Und dann ist aber gleichzeitig neben dieser Sehnsucht nach Nähe auch Angst. Und aus Angst, diese Freundschaft zu verlieren, zerstören sie sie auch.

Was gefällt Ihnen an den beiden Hauptdarstellerinnen, Alice und Berivan?

Natürlich mag ich die beiden Figuren sehr gern. Ich schätze Berivan für ihre Naivität, Emotionalität, ihre Direktheit und Impulsivität. Sie ist ja immer gleich beleidigt. Doch obwohl sie den Kriegshorror als kurdisch Verfolgte erlebt hat, hat sie ihre Unschuld bewahrt, gepaart mit so einem frühen Erwachsenensein. Aber sie ist auch ein stolzes Mädchen, die am Ende sagt: „Egal, was mir auch passiert, ich habe meine Meinung“. Alice dagegen ist ein Mädchen, das sehr gut beobachten kann. Man hat ja den Eindruck, dass sie sehr introvertiert ist, und sie nichts mitbekommt, geradezu betäubt ist. Aber sie kriegt viel mehr als andere mit.

War die Idee mit dem übersensiblen Gehör bei Alice eine Hilfe, um ein Identifikationsmoment aufzubauen?

Genau das war die Idee. Das sensible Gehör trägt dazu bei, sie darzustellen, wie sie die Umwelt wahrnimmt, immer als Bedrohung, also laut. Und dann kommt noch hinzu, dass man denkt, Alice sei kalt und unsensibel. Jedoch ist sie einfach ein sensibles Mädchen.

Inwiefern ist die Flüchtlingssituation Berivans mit Ihrer vergleichbar?

Ich werde immer mit Berivan verglichen. Aber das ist falsch, denn Berivan ist politisch verfolgt. Sie ist Flüchtling und will in Deutschland erst Fuß fassen. Ich bin ja schon integriert, also bin ich keine Emigrantin, sondern Migrantin. Meine Eltern waren Arbeiter. Es war eine Arbeitsmigration, womit folglich keine politischen Gründe vorlagen.

Woher kommt der Filmtitel „En Garde“?

Damit ist die Fechtposition, das Gegenüberstehen zweier Fechter gemeint. Das ist dieser Spruch kurz vor dem Kampf: Hab Acht! Das heißt auch, das Leben als einen Kampf zu sehen, was es für Alice ja bedeutet. Es bedeutet für mich auch Dynamik, „en garde“, dann geht’s los. Alice lernt, sich beim Fechtsport zu wehren.

Der Film kommt ohne Musik aus, und man vermisst sie nicht einmal. Wie haben Sie das geschafft?

Das ist ein riesiges Kompliment, denn mit Musik kann man einen Film schnell wiedererkennen. Ich wollte aber den Film auf das Wesentliche reduzieren, auf die Sprache, auf das Spiel, denn auch im Leben hat man keine Musik zur Begleitung. Ich habe natürlich Musik benutzt, aber sehr sehr wenig. Denn Musik ist immer auch manipulativ und ruft beim Zuschauer Gefühle hervor. Mir aber war wichtig, Gefühle ohne Musik zu erzeugen.

Welche Schwierigkeiten mussten Sie überwinden, um den Film zu machen?

Wir haben insgesamt 35 Tage gedreht. Der Film ist ja eine Low-budget-Produktion, das ist aber grundsätzlich so bei Filmen, die keine Mainstream-Themen behandeln. Auffällig war, dass ich Angst hatte, wir würden die beiden Hauptdarstellerinnen nicht finden. So haben wir sechs Monate gecastet, bis ich für die Rolle Alices und Berivans die geeigneten Darstellerinnen hatte.