Juristerei lost in translation

Wie Richter, Staatsanwälte und Polizeifunktionäre aus der chinesischen Provinz Jiangsu an der Justizakademie NRW in Recklinghausen das deutsche Rechtssystem kennen lernen

AUS RECKLINGHAUSENKLAUS JANSEN

Das mit dem Abhören möchte Herr Sung dann noch einmal genauer wissen. Leise spricht er auf Chinesisch, der Dolmetscher dolmetscht, und heraus kommt die Frage: „Wie war das mit der Erlaubnis?“. Johannes Wiemann muss antworten. Wiemann ist ein kleiner Mann mit Brille und einem ausfahrbaren Zeigestock, eigentlich Richter am Landgericht Bielefeld, heute Dozent an der Justizakademie NRW in Recklinghausen und Werber für das deutsche Rechtssystem. „Für Durchsuchungen, Abhören von Telefonen und festnahmen braucht der Staatsanwalt eine richterliche Erlaubnis. Weil es in unserer Verfassung das Grundrecht auf Freiheit, ein Briefgeheimnis und einen Schutz vor Abhöraktionen gibt“, erklärt Wiemann. Der Dolmetscher dolmetscht, 23 Köpfe nicken, Kugelschreiber schreiben.

Die interessierten und freundlichen Zuhörer des Bielefelder Richters stammen aus der chinesischen Provinz Jiangsu, gelegen nördlich von Schanghai, 74 Millionen Einwohner stark, dicht besiedelt und wirtschaftsstark. Die 19 Herren und vier Damen tragen ihrem Status entsprechend schwarze Anzüge und Krawatten beziehungsweise schicke Kostüme – sie sind Richter, Staatsanwälte und Leiter von Polizeibehörden. Sie sind Teil der bereits zweiten Delegation der „Sektion für Ausbildung und Erziehung der Kommission für Politik und Recht der Provinz Jiangsu“, die sich in NRW in europäischen Recht fortbildet.

Nicht ganz unbescheidenes Ziel der Aktion sei es, so teilt NRW-Justizminister Wolfgang Gerhards (SPD) mit, „den Aufbau einer den Anforderungen des modernen Wirtschaftsleben gewachsenen Justiz zu ermöglichen, ohne die auf Dauer weder der Erfolg nordrhein-westfälischer Unternehmen in Jiangsu noch die Modernisierung des chinesischen Rechtssystem vorstellbar sind“. Ähnliches hat NRW bereits Juristen aus Vietnam und Russland angedeihen lassen.

Ganz im Sinne wohlmeinender systemtransformatorischer Entwicklungshilfe reisen die Gäste deshalb im Polizeibus nach Münster, sehen sich Grundbuchämter an und werden, welch Wunder, gleich zweimal zum Essen in ein China-Restaurant eingeladen – und lassen sich von Johannes Wiemann über den exakten Ablauf eines staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahren in Kenntnis setzen. Der Dolmetscher muss sich durch deutsche Wortungetüme wie Beweisführungspflicht, Prozesskostenhilfe und Aktenzeichen kämpfen, die Kader schreiben mit, trinken heißen Tee, manche versenden SMS.

Nicht nur, weil vieles in der Übersetzung verloren geht, wirkt Wiemann eher skeptisch, wenn er über die Einflussmöglichkeiten der NRW-Justiz im fernen China spricht: „Das sind schon zwei sehr unterschiedliche Rechtssysteme, die muss man erstmal unter einen Hut kriegen“, sagt er. In der Konkretisierung klingt Wiemann dann noch weniger diplomatisch: „Manchmal habe ich das Gefühl, dass Grundrechtsdinge denen doch ziemlich fern sind.“ Manches erscheine den sozialistischen Gästen am deutschen Rechtssystem dann doch etwas zu kompliziert – wie eben der Zwang, sich für eine Wohnungsdurchsuchung eine richterliche Erlaubnis auszustellen. Bewusst ist man sich dessen auch beim NRW-Justizministerium: „Was wirklich in den Köpfen hängen bliebt, kann man nicht sagen. Wir machen ein Angebot – wer weiß in welcher Position sich die Gäste in ein paar Jahren wiederfinden“, sagt Ministeriumssprecher Ralph Neubauer. Und auch Dozent Wiemann findet: „Es ist gut, sich kennen zu lernen.“

Die chinesische Seite jedenfalls genießt die Fortbildung. Und die Unterschiede zwischen alt-preußischer und neu-fernöstlicher Juristerei, die seien ohnehin gering: „Wir haben historisch gesehen auch im Kern ein kontinentaleuropäisches Rechtssystem“, lässt Ling Yongxing dolmetschen, der als Sprecher der Delegation auftritt. Es sei wichtig, dass sich China dem Westen öffne, findet der kleine Mann mit der Brille: „Im Zuge der Globalisierung geht die wirtschaftliche Entwicklung vornweg. Die Justiz ist der nächste Schritt. Andere werden folgen“, sagt er. Über den Austausch mit Deutschland ist Ling erfreut – so erfreut, dass er neben dem deutschen Kollegen auch gleich den Journalisten zum Gegenbesuch nach Jiangsu einlädt. Denn: „Wenn wir uns näher kommen, können beide viel voneinander lernen.“