Sprichst du nur den Zaubersatz

Einst als Allheilmittel homosexueller Emanzipation gepriesen, hat Outing viel von seiner Kraft eingebüßt: Die Bedingungen der Sichtbarkeit sexueller Identität haben sich verändert. Und der Bekenntniszwang stützt die Vorstellung einer zweigeschlechtlichen Welt stärker als frivoles Verhalten

Die Arithmetik von Sichtbarkeit, Akzeptanz und Normalität birgt mehr Tücken, als einem lieb sein magGeorge Michaels Zwangsouting wurde von vielen gerne gesehen: als Strafe dafür, dass er sich nie offen bekannt hatte

VON CRISTINA NORD

Auf dem Höhepunkt des britischen Spielfilms „Get Real“ betritt Steven, der Held, die Bühne der Schulaula. Er soll eine Auszeichnung für einen Artikel entgegennehmen, den er in der Schülerzeitung veröffentlicht hat. Doch der junge Mann hat etwas anderes im Sinn: Er will die Gelegenheit nutzen, um coram publico zu verkünden, dass er schwul ist. Also tritt er an das Rednerpult heran, sucht nach den richtigen Wörtern, zögert, ringt mit sich. Da ein Coming-out ohne Gegenüber keines wäre, sind in die qualvoll zerdehnte Sequenz Bilder aus dem Publikum hineinmontiert: das Gesicht von Stevens Mutter, das des Schuldirektors, das des Vaters, das des heimlichen Liebhabers. Einmal wirft der junge Held den Kopf in den Nacken, als suchte er, indem er nach oben blickt, göttlichen Beistand, einmal erstickt ein Schluchzen in seiner Kehle, dann endlich löst sich die Stauung, löst sich die suspense, und der Satz ist raus: „I am gay“. Das Publikum schaut einen Moment lang betreten, um dann frenetisch zu applaudieren.

Was der junge Steven (Ben Silverstone) in Simon Shores Film aus dem Jahre 1998 aufführt, ist eine Art Blaupause fürs Coming-out. In der Spielfilmdramaturgie bildet die große Geste des öffentlichen Geständnisses den Höhepunkt. Das Hadern und die Selbstzweifel, aus denen der Film seine Konflikte und plot points bezog, werden überwunden. Und genauso wird das Drama des schwulen oder lesbischen Teenagers imaginiert: Alle Sorgen und Nöte, der Selbsthass und das Unbehagen verblassen, sobald der Zaubersatz ausgesprochen, sobald die homosexuelle Identität angenommen ist. Es geht um eine Selbstfindung, an deren glücklichem Ende man von sich sagen kann, out and proud statt in the closet zu sein. Offen und stolz statt heimlichtuerisch im Schrank: Wem das gelingt, dem fliegen die Anerkennung, die Liebe der anderen von alleine zu.

Bei schwulen und lesbischen Prominenten beansprucht dieses Narrativ Gültigkeit über das Teenageralter hinaus. Pars pro toto sei an Klaus Wowereits Coming-out erinnert. Seit er im Juni 2001 bei einem Parteitag der Berliner SPD „Ich bin schwul, und das ist auch gut so“ sagte, ist er der Inbegriff einer positiven Repräsentationsfigur. Selbst wenn er sich mitunter dem Protokoll widersetzt und im falschen Anzug nach Thailand reist, so trägt er doch dazu bei, dass Schwule und Lesben größere Akzeptanz erfahren. Wowereit ist ein Stück gelebter Sichtbarkeit – mithin jener Vorstellung, dass die Präsenz prominenter Homosexueller in Politik, Medien und Showbusiness die Anerkennung homosexueller Lebensweisen insgesamt fördere und darüber hinaus dringend nötige Vorbilder für junge Schwule und Lesben anbiete. Durch Wowereits Offenheit lerne die Mehrheitsgesellschaft, dass Schwule und Lesben Menschen sind wie andere auch. Niemand, vor dem man Angst haben müsste, niemand, den man verachten dürfte.

Doch ganz so einfach ist es nicht. Die Arithmetik von Sichtbarkeit, Akzeptanz und Normalität birgt mehr Tücken, als einem lieb sein mag. Zu spüren bekommen dies zunächst einmal diejenigen, die sich, aus welchen Gründen auch immer, der Sichtbarkeit verweigern. Schwullesbische Medien und Lobbygruppen sehen es nicht gerne, wenn ein Prominenter seine Homosexualität nicht öffentlich macht; und zugleich lebt, wer in the closet bleibt, mit der Gefahr, gegen seinen Willen geoutet zu werden. Gelegentlich kommt es vor, dass das Gerücht der Homosexualität in denunzierender Absicht gestreut wird.

Dieses Kalkül geht in manchen Fällen auf (bei Annette Schavan etwa verhält es sich so, dass die Gerüchte, sie sei lesbisch, in Baden-Württemberg offenbar die Kraft haben, die Politikerin zu beschädigen), manchmal nicht: Als der Hamburger Senator Ronald Schill der Öffentlichkeit mitteilte, der Regierende Bürgermeister Ole von Beust sei schwul, wendete sich die öffentliche Meinung sofort und einhellig gegen ihn. Denkt man zurück an den Fall des Bundeswehrgenerals Günter Kießling, der 1983 mit der Begründung entlassen wurde, seine Homosexualität mache ihn erpressbar und damit zum Sicherheitsrisiko, ist das natürlich ein großer Fortschritt. In anderen Fällen wiederum mag das Kalkül angemessen sein.

Der demokratische Präsidentschaftskandidat Kerry wies im US-Wahlkampf darauf hin, dass die Tochter des Vizepräsidenten Dick Cheney lesbisch sei. Das wäre denunziatorisch gewesen, wären die Republikaner eine offene und tolerante Partei. Da sie sich aber mit einer dezidiert homophoben Politik brüsten, schadet es nichts, wenn ein Politiker des gegnerischen Lagers daran erinnert, dass sich diese Politik eben auch gegen die Tochter des Vizepräsidenten wendet.

Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang das Beispiel George Michaels. Im April 1998 wurde der Popstar in Beverly Hills verhaftet, nachdem er beim Cruisen im Will Rogers Memorial Park ertappt worden war. Im Monat darauf wurde er zu einer Geldstrafe und zu 80 Stunden gemeinnütziger Arbeit verurteilt. Pikant daran war nicht, dass George Michael Sex auf einer öffentlichen Toilette haben wollte, sondern vielmehr, dass der Polizist, der die Verhaftung durchführte, das zu ahndende Vergehen überhaupt erst initiierte, indem er sich seinerseits als Cruiser ausgab. Paradoxe Welt: Ohne den Gesetzeshüter hätte es keine Gesetzesübertretung gegeben.

Anstatt nun die restriktive und heuchlerische Sexualpolitik anzugreifen, die aus einer privaten Handlung ein Vergehen macht, nahmen große Teile der US-amerikanischen schwullesbischen Presse die Verhaftung Michaels und das daraus resultierende Zwangsouting mit Genugtuung zur Kenntnis – als gerechte Strafe dafür, dass sich der Musiker weigerte, sich öffentlich zu seiner Homosexualität zu bekennen. Wer nicht out and proud ist, wer als Streiter in Sachen Sichtbarkeit versagt, der verdient es eben nicht anders.

Nun hat sich George Michael, wie der Filmwissenschaftler Marc Siegel in dem schönen Essay „Community Service: Representing Public Sex“ darlegt, seit dem Beginn seiner Karriere mit Attributen umgeben, die dem eingeweihten Blick keinen Zweifel erlaubten: Dieser Mann ist schwul. Dass dies dem uneingeweihten Blick entgehen könnte, wen sollte es stören? Dennoch verlangten Blätter wie The Advocate das Coming-out zu den Bedingungen der Mediengesellschaft: eine öffentliche Erklärung, ein Interview mit einer Boulevardzeitung oder Vergleichbares. George Michael selbst sagte dazu in einem Interview: „Manche Leute mögen es als unaufrichtig empfunden haben, dass ich für die Boulevardblätter nicht out war. Ich aber kann mir nichts Aufrichtigeres vorstellen. Und wenn man nicht möchte, dass man für schwul gehalten wird, lässt man sich dann etwa einen Bart wachsen, der einen ausschauen lässt, als wäre man bei einem Village-People-Vorsprechen durchgefallen? Wen gab es denn da noch, dem ich hätte sagen sollen, dass ich schwul bin – außer Leuten, denen es egal sein konnte?“

Wer heute noch dem Primat der Sichtbarkeit anhängt wie einst Rosa von Praunheim, übersieht etwas Wesentliches: Die Bedingungen der Sichtbarkeit haben sich geändert. War es früher ein Fortschritt, darauf hinzuweisen, dass das Private eine politische Facette hat, so hat man es heute mit der umgekehrten Situation zu tun: Das Politische teilt sich vornehmlich als Privates mit. Wo sich die Medienlandschaft im Brustvergrößerungs- und Super-Nanny-TV gefällt, hilft der alte, in den siebziger Jahren so wichtige Hinweis, dass private Verhältnisse strukturell begründet seien, nicht weiter. Und weshalb sollte man mitspielen, wenn eine Talkshow zum Thema Lesbischsein schon im Titel fragt: „Warum seht ihr Lesben immer so hässlich aus?“

Das zweite Problem deutet sich in der Wortwahl an – dort, wo von einem „bekennenden“ Homosexuellen die Rede ist. Das Coming-out hat etwas von einer Beichte und einem Geständnis. Es folgt der Vorstellung, die Sexualität sei der privilegierte Austragungsort dessen, was die Wahrheit eines Individuums ist. Zugleich unterstützt es die Idee einer monolithischen Identität, da diese weder als Konfliktfeld widerstreitender Strömungen noch als Produkt vielfältiger Faktoren begriffen wird. Die Theoretikerin Judith Butler fragt sich: „Ist das ‚Subjekt‘, das ‚out‘ ist, frei von Unterwerfung und hat es sich endgültig aus der Schusslinie gebracht? Oder könnte es sein, dass der Akt der Subjektion, das heißt der Unterwerfung, der das schwule oder lesbische Subjekt erst zum Subjekt macht, in mancher Hinsicht selbst dann unterdrückerisch wirkt oder sogar dann am heimtückischsten unterdrückt, wenn ‚Out-Sein‘ beansprucht wird?“

Möglicherweise unterstützen das Bekenntnis und die anschließende Schlagzeile in der Bild die Vorstellung einer zweigeschlechtlichen, auf Heterosexualität gründenden Welt viel stärker als ein uneindeutiges, frivoles Verhalten. Möglicherweise bedeutet die Festlegung auf eine Identität nicht Freiheit, sondern Zwang, und möglicherweise erliegt der offen schwule Politiker Wowereit diesem Zwang viel stärker als – um ein Beispiel zu nennen – der lange Zeit recht kokette und uneindeutige Guido Westerwelle. Wäre der nicht bedauerlicherweise ein Politiker recht stumpfer Denkart, sein Umgang mit dem Schwulsein wäre durchaus sympathisch. Einmal, lange vor seinem späten Coming-out, ließ sich Westerwelle im Magazin der SZ interviewen, flankiert von Fotos, die ihn im hellen Anzug in einer venezianischen Gondel zeigten – der eingeweihte Blick versteht das sofort. Wenn die Ästhetik solcher Zeichen, Codes und Chiffren im Zuge allseitiger Sichtbarkeit in Vergessenheit geraten, so ist dies ein Verlust.

Und zwar ein gewaltiger. Denn noch etwas geht verloren, sobald Schwule und Lesben sich nach Normalität sehnen: das Verpönte. Der Sex auf der Klappe, das Cruisen im Park, die koprophagen Exzesse früher John-Waters-Filme, Divines maßloser Körper, die Bilder von Kaposisarkomen während der Aidsepidemie, die Maskeraden der Drag Kings und Drag Queens, die abgebundenen Brüste der Kessen Väter, der lesbische Sex Shop aus dem New Yorker Stadtbild, kurz all die fröhlichen und traurigen Transgressionen queerer Existenz.

„Das Problem ist die Hierarchie des Respektablen“, sagt der New Yorker Literaturwissenschaftler Michael Warner. „Die beeindruckendste Form der Würde ist nicht die, die einen dazu anhält, bei sich aufzuräumen und sauber zu machen, sondern eine, die erkennt, dass wir alle dazu in der Lage sind, abstoßend, zurückgestoßen, abjekt zu sein. Im besten Fall arbeitet Queer Culture mit den Intensitäten der Scham, ohne bloß zu versuchen, in der Hierarchie der Respektabilität aufzusteigen.“

In seinem lesenswerten Buch „The Trouble With Normal. Sex, Politics, and the Ethics of Queer Life“ hat Warner beschrieben, wie verhängnisvoll sich der Wunsch nach Normalität und Respektabilität auswirkt. Wenn etwa in New York Cruising-Gebiete der Zero-Tolerance-Politik der Stadtverwaltung zum Opfer fallen, dann kann es durchaus geschehen, dass bürgerlich gewordene Schwule und Lesben Beifall spenden. Vielleicht sollte ihre Sorge weniger ihrer Normalität als ihrer Würde gelten.