„Geburt der Zivilgesellschaft in der Ukraine“

Der Schriftsteller Andrej Kurkow über die Macht der Opposition und den zivilen Ungehorsam in Kiew

taz: Herr Kurkow, was geschieht zurzeit in der Ukraine, haben Sie einen Begriff dafür?

Andrej Kurkow: Das ist eine Diskothekenrevolution (lacht). Eine große, fröhliche Party. Überall, außer in den östlichen Regionen, sind alle in Partystimmung. Die jungen Leute sagen: Los, lasst uns auf diese Party gehen. Da treten ständig Musiker auf, man kann sagen, dass eine neue Rockkultur entstanden ist. Alle Slogans der Revolution werden quasi über Nacht zu Liedtexten verarbeitet.

Haben Sie eine solche Entwicklung erwartet?

Im Leben nicht. Aber zu Sowjetzeiten hätte ich den Zusammenbruch des Sowjetsystems auch nicht erwartet. Das ukrainische Volk galt immer als sehr passiv und unendlich geduldig.

Das war wohl eine falsche Einschätzung?

Dass jetzt alles so gekommen ist, hat vor allem mit der Berichterstattung der beiden oppositionellen Medien, von Radio Era und dem Fünften Fernsehkanal, zu tun. Die haben vor und während der Wahlen die ganze Zeit über die Fälschungen und Machenschaften der Staatsmacht berichtet. Die Menschen glauben hauptsächlich dem Fernsehen. Das stammt noch aus Sowjetzeiten.

Die Aktionen der Opposition haben dann den Menschen den letzten Impuls gegeben. Sie spürten, dass sie etwas verändern können. In der Ukraine ist vor einer Woche die Zivilgesellschaft geboren.

Demonstrieren Sie auch mit?

Im Zelt schlafe ich nicht, aber ich bin dauernd auf Sendung – im Radio, im Fernsehen. Andere Schriftsteller und ich machen jetzt viele Aktionen, im Zentrum von Kiew, in Buchgeschäften. Das Wichtigste für uns ist dabei, dass alle tolerant und mit Respekt füreinander umgehen.

Was würden Sie sich jetzt wünschen?

Ein Wunsch hat sich bereits erfüllt. Was in der Ukraine geschieht, ist gut für das Image des Landes. Alle wissen jetzt, dass es ein Land gibt, das Ukraine heißt, und wo dieses Land liegt.

Was ich mir noch wünsche? Dass Wiktor Janukowitsch und die drei Gouverneure von Charkiw, Lugansk und Donetsk wegen Verfassungsbruchs in den Knast kommen. Es kann doch wohl nicht sein, dass ein Regierungschef jetzt die Einheit des Landes aufs Spiel setzt.

Sie sind Russe, leben seit langem in Kiew und schreiben ausschließlich auf Russisch. Halten Sie die Gefahr einer Spaltung für real?

Diese Spaltung in den östlichen Regionen und auf der Krim wird von Russland und den Kommunisten stimuliert. Ich habe überhaupt keine Probleme, auch wenn ich in der Westukraine auftrete, von der die Menschen im Donetzker Gebiet ja behaupten, da lebten nur Nationalisten. Ich lese da aus meinen Büchern auf Russisch und habe noch niemals negative Reaktionen erlebt. In der Westukraine gibt es die nationalistische Organisation Pro Swita. Die haben mich in Lwiw (Lemberg) sogar zu einem Auftritt in einer Buchhandlung eingeladen.

Könnte das Szenario in der Ukraine als Vorlage für Ihren nächsten Roman dienen?

Für den nächsten nicht, aber für den übernächsten. Der nächste ist schon fertig und hat den Titel „Die letzte Liebe des Präsidenten“. Darin beschreibe ich, wie jemand im Jahre 2011 zufällig Präsident wird und wie dann die russisch-ukrainischen Beziehungen aussehen könnten. Der Roman ist, ehrlich gesagt, ziemlich romantisch.

Was macht jetzt Ihr Romanheld, der Pinguin Mischa?

Der ist mit einem Flugzeug nach Kiew gereist, um sich alles aus der Nähe anzusehen. Jetzt wartet er erst einmal ab. Wenn er dann auch wirklich sicher ist, dass sein Freund Wiktor in eine Ukraine zurückgekehrt ist, die ein glückliches Land werden wird, kann Mischa ganz beruhigt wieder in die Antarktis fliegen.

INTERVIEW: BARBARA OERTEL