Der Heilige von Brilon

Ex-Mofarocker Friedrich Merz wird in Berlin dornengekrönt – zum Reformator II.

Immer wieder heißt es, Merz sei „einer, der das Holz ins Ziel tragen wird“

Am 30. November mittags um halb eins am Hamburger Bahnhof in Berlin nehmen mich zunächst zwei Flugblattverteilerinnen von Attac in Empfang. Ich bitte eine der Frauen um den Handzettel; sie gibt ihn mir, herrscht mich aber gleichzeitig an: „Gehen Sie etwa auch zu dieser honorigen Veranstaltung?“ – „Honorig“ spricht sie mit schneidender Ironie. „Ja“, gebe ich wahrheitsgemäß zurück. „Und schämen Sie sich nicht?“, inquisitioniert sie. „Nein“, sage ich, weiter bei der Wahrheit bleibend. Ihre Empörung steigert sich zu einem entsetzten Verstummen.

Was von Attac in den Rang eines sichschämungswürdigen Delikts erhoben wird, ist die Preisverleihung „Reformer des Jahres“. Zum zweiten Mal nach 2003 wurde die Auszeichnung von der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM) und der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung verliehen. Dazu müssen Reden gehalten werden – den Anfang macht Prof. Dr. Hans Tietmeyer, Kuratoriumsvorsitzender der INSM, ein älterer Herr, der gern spricht, Tucholskys „Ratschläge für einen schlechten Redner“ aber nie mit Gewinn gelesen hat: „Die Zeit des Unter-den-Tisch-Schiebens ist vorbei … Es geht um die drei Ks: Kontinuität – Konsistenz – Kredibilität …“ In der euphemistisch plätschernden Rhetorik hätte man leicht überhören können, worum es der INSM geht. In Tietmeyersprache heißt das „positive Impulse für den Arbeitsmarkt durch Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe“ und „Entschlackung des Arbeitsrechts“. Klingt zwar nicht besser als Armut, aber aufgeblasener.

Anschließend ist Dr. Rainer Hank von der FAS an der Reihe, der Leitartiklerwörter wie „hochinteressant“ und „freilich“ sagen kann und 2004 das Jahr der „Bedenkenträger und Zauderer“ nennt, „das Jahr der politischen Gegenreformation“ – hier wird es erstmals parallelgesellschaftlich lutherisch-religiös. Weshalb auch die Exkommunizierung nicht fehlen darf; als „Blockiererin des Jahres“ wird ausgerechnet die SPD-Tante Andrea Nahles gekürt. Wer so etwas Harmloses als Feind braucht, um den ist es selbst schwach bestellt – zumal ja Dr. Hank Frau Nahles als „muntere und engagierte Person“ beschreibt und damit alles Jusotum auf Erden korrekt definiert.

Die Laudatio auf den Preisträger 2004 Friedrich Merz hält dann Prof. Dr. Paul Kirchhof, der im vergangenen Jahr als Erster den Reformerpreis erhielt. Kirchhof ergeht sich in Athletik, er will Merz „das Staffelholz weitergeben“, „den Siegerkranz flechten“ und spricht relativ fließend Brei: „beachtliche Impulse im Ringen“ attestiert er Merz und bleibt im Sportjargon: Merz sei „einer, der das Holz ins Ziel tragen wird“. Jede Bretterbude, die einer vor der Rübe trägt, löst bei Kirchhof Begeisterung aus. Als in der ARD noch der „Galopper des Jahres“ gekürt wurde, von Adi Furler, ging es vergleichsweise intelligent zu.

Von „Dankbarkeit und Erwartung“ spricht Kirchhof, von „Aufbruch und Erwartung“ und gleich noch einmal vom „Geschenk der Hoffnung und Erwartung“ – und meint damit Friedrich Merz, den er wahrhaftig den „Reformator“ nennt. So hat man sich Friedrich Merz vorzustellen: halb Luther, halb dornengekrönter Christus der Reform. Es muss wohl Adventszeit sein.

Schließlich erklimmt der Heilige von Brilon selbst die Bühne: Friedrich Merz, unfreiwillig gemein als „Provokateur aus dem Sauerland“ avisiert, sagt: „Es ist fünf vor zwölf“ und „Wir Deutschen werden wie so oft in letzter Minute die Kraft haben“. Dass „die Anwesenheit aller“ ihn „bestätigt und ermutigt“, behauptet er auch. Es ist genau diese hysterisch-religiöse Fehleinschätzung der Realität, die Friedrich Merz mit der kreischenden Frau von Attac teilt. WIGLAF DROSTE