Nachhilfe für „Bildungsproletariat“

In Bonn werden insbesondere jugendliche Analphabeten auf das elektronische Lernprogramm „Apoll“ aufmerksam gemacht. Es ermöglicht, anonym und kostenlos lesen und schreiben zu lernen

Von Martin Ochmann

Mit einer groß angelegten Kampagne versucht man derzeit in Bonn, dem wachsenden Problem des Analphabetismus beizukommen. Gemeinsam mit dem Deutschen Volkshochschul-Verband hat die Volkshochschule der Stadt jetzt den „Apoll-Award“ ausgeschrieben. Im Rahmen dieses Wettbewerbs, der bis Anfang kommenden Jahres läuft, sollen Grafiker Werbepostkarten entwerfen, mit denen insbesondere jugendliche Analphabeten auf das Lernprojekt „Apoll“ (Alpha Portal Literacy Learning) aufmerksam gemacht werden. Ob die Kampagne bundesweit anläuft, wollen die Initiatoren von den Erfahrungen abhängig machen, die in Bonn gemacht werden.

Im Mittelpunkt des Lernprojekts steht das Internetportal www.ich-will-schreiben-lernen.de. Dieses elektronische Lernprogramm bietet Betroffenen die Möglichkeit, sich anonym und kostenlos weiterzubilden. Diese „Niederschwelligkeit“ sei wichtig, sagt Christian Fiebig vom Deutschen Volkshochschul-Verband. Zwar sind auch die Alphabetisierungskurse der VHS kostenlos, um für die Betroffenen, die zumeist aus sozial schwachen Schichten stammen, keine zusätzlichen Hindernisse aufzubauen. Doch „die Angst sich zu outen, ist das größte Bildungshindernis unserer Zielgruppe“, weiß Fiebig.

Ihr Handicap steht den Lernwilligen bei ihren Weiterbildungsversuchen im Übrigen nicht im Wege – den Besuchern der Seite werden alle Schritte vorgelesen. Finanziert wird das Projekt vom Bundesministerium für Bildung und Forschung.

Für die Stadt Bonn rechnet Ingrid Schöll, Leiterin der städtischen Volkshochschule, mit rund 8.000 funktionalen Analphabeten, also Menschen, die nur auf niedrigstem Niveau lesen und schreiben können. Ein statistischer Schätzwert, der sich unter anderem aus der ebenfalls geschätzten Zahl von vier Millionen Analphabeten in der gesamten Republik ergibt. Genaue Zahlen gibt es nicht. Relativ sicher ist nur, dass Bonn vergleichsweise gut abschneidet. „Wir haben kein spezifisches Analphabetismusproblem, im Gegenteil, Bonn hat eine sehr gut ausgebildete Bevölkerung“, bilanziert Schöll.

Eine Überzeugung, bei der sie sich vor allem auf die Schulabgängerzahlen beruft. Mit über 43 Prozent lag die Zahl der Bonner Schulabgänger mit Hochschulreife im Jahr 2001, verglichen zum Beispiel mit rund 30 Prozent im Rhein-Sieg-Kreis, sehr hoch. Trotzdem sieht Schöll die Notwendigkeit, „den Finger jetzt in die Wunde zu legen“. Denn deutschlandweit verlässt rund ein Viertel der Schüler die Schulen mittlerweile ohne ausreichende Grundbildung, Tendenz steigend. Auf dem Arbeitsmarkt haben diese Menschen kaum eine Chance. Aber: „Wir brauchen diese Menschen“, sagt Schöll. Schon aus wirtschaftlichen Interessen könne ein Land es sich nicht leisten, soviel Potenzial zu vergeuden. Gleichzeitig sieht Schöll die Gefahr einer Zwei-Klassen-Gesellschaft von gut ausgebildeten Menschen und dem, was Peter Hubertus vom Bundesverband Alphabetisierung in Münster das „Bildungsproletariat“ nennt. Wer einmal in Arbeitslosigkeit und Armut gerutscht sei, bei dem sinke die Motivation zur Weiterbildung, so Hubertus. Analphabetismus sei zudem „sozial vererbbar“ – sprich: In Familien, die einmal aus dem Arbeitsleben „freigesetzt“ wurden, wird sich Analphabetismus von Generation zu Generation vererben, das Problem wird sich in sozial schwachen Bevölkerungsgruppen verfestigen.

„Nirgendwo anders korrespondieren schulische Chancen so stark mit der sozialen Herkunft wie bei uns“, sagt Schöll mit Blick auf diesen Teufelskreis. Eine immer größer werdende Gruppe von Menschen wird, das befürchten die Experten, künftig vom gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen und staatlich alimentiert werden müssen. Das birgt zunehmend sozialen Sprengstoff.

Bonn sei mit seiner Alphabetisierungskampagne „drei Schritte weiter als andere Städte“, meint Martin Ragg vom Deutschen Volkshochschul-Verband. Hier versuche man das Problem anzupacken, bevor es zu spät ist. Offenbar mit Erfolg: 9.000 „Lerner“, sagt Ragg, hätten sich zwischenzeitlich auf der Homepage registrieren lassen.