„Estonia“ für Waffenschmuggel benutzt

Behörden in Stockholm räumen ein, dass in den Wochen vor dem Untergang der Fähre mit 852 Personen diese von Schwedens Geheimdienst für geheime Transporte militärischer Güter benutzt wurde. Neue Untersuchungskommission gefordert

Enthüllungen geben den Spekulationen über Konspirationen neue Nahrung

AUS STOCKHOLMREINHARD WOLFF

Trotz tosenden Sturms öffnete die Besatzung des Fährschiffs „Estonia“ – vielleicht waren es auch Geheimdienstagenten – mitten in der Ostsee die Bugklappe, um einen Container, beladen mit heißer Schmuggelware, ins Meer zu befördern. Diesen und ähnlichen Geschichten, die bisher über die „wahren“ Hintergründe der „Estonia“-Katastrophe kolportiert werden, ist gemeinsam, dass es bloße Phantasieprodukte sind. Doch nun scheint sich die Wirklichkeit der Phantasie zu nähern.

Denn am Donnerstag mussten Sprecher des schwedischen Zolls und Militärs einräumen, dass Enthüllungen in einer zwei Tage zuvor gezeigten Fernsehsendung zutreffen. Die am 28. September 1994 mit 852 Menschen an Bord versunkene „Estonia“ wurde vom schwedischen Geheimdienst regelmäßig für militärische Schmuggelaktionen eingesetzt. Zuletzt mindestens zweimal in den beiden Wochen vor ihrem Untergang vor der finnischen Südküste, als jeweils Fahrzeuge vollgepackt mit militärischer Kommunikationsausrüstung aus ehemals sowjetischen Beständen an Bord waren. Adressat dieser Lasten: der schwedische militärische Geheimdienst Must.

Viele wussten davon, doch niemand wagte bislang darüber zu sprechen. Bis nach zehnjährigem Zögern – begründet in der Furcht, womöglich gegen die dienstliche Schweigepflicht zu verstoßen – einen pensionierten Zollbeamten das Gewissen nun doch zu sehr plagte.

Lennart Henriksson erzählte einem Journalisten, wie er jeweils Stunden vor der Ankunft der „Estonia“ am 14. und 20. September 1994 zu seinem Vorgesetzten beordert worden war und dort die Dienstanweisung bekam, mit Autotyp und Kennzeichen genau beschriebene Fahrzeuge ohne Kontrolle passieren zu lassen. Neugierig geworden warf er einen Blick auf die Ladefläche und konnte dabei erkennen, dass dort Kisten mit militärischem Material standen.

In der Woche, in der die „Estonia“ unterging, war Henriksson in Urlaub und kann daher keine Aussagen über mögliche weitere derartige Transporte machen. Ein Militärsprecher behauptet nun, diese habe es jedenfalls in der Katastrophennacht „garantiert“ nicht gegeben.

Auch wenn es tatsächlich keinen irgendwie gearteten Zusammenhang zwischen einer illegalen Ladung und dem Untergang geben sollte, die Glaubwürdigkeit der Regierungen in Stockholm und im estnischen Tallinn in Sachen „Estonia“ hat einen erheblichen Knacks bekommen. Die Eile, mit der das Wrack mit einem Sarkophag überdeckt werden sollte, die Weigerung, eine Kontrolle des Laderaums des gesunkenen Schiffes vorzunehmen – sie erscheinen plötzlich in ganz anderem Licht.

Schwedens Ministerpräsident Göran Persson reagierte umgehend und kündigte die Einsetzung einer Kommission an, die sich mit den geheimen Militärtransporten an Bord der „Estonia“ damals und mittels anderer ziviler Fährschiffe jetzt befassen soll. Angeblich hat weder er noch ein anderes Kabinettsmitglied davon gewusst.

Doch das wäre verwunderlich. Denn dass die „Estonia“ Anfang der Neunzigerjahre angesichts noch äußerst mangelhafter Grenzkontrollen im Baltikum selbst und auch aus Russland heraus eine beliebte Route beispielsweise für Drogenschmuggel nach Skandinavien war, stand nie in Frage. Auch nicht die Aktivitäten westlicher Geheimdienste im Gefolge des Abzugs der Roten Armee aus dem Baltikum. Laut dem damaligen schwedischen Militärattachée in Estland, Sören Lindman, waren die baltischen Länder zwischen 1992 und 1995 ein Eldorado für militärische Nachrichtendienste der Nato, aber auch der neutralen skandinavischen Länder. Sie alle „organisierten“ sich im damaligen Abzugschaos von dort direkt oder über die kaum bewachte estnisch-russische Grenze aus der Region St. Petersburg Militärtechnik: „Es wäre nahezu ein Dienstvergehen gewesen, hätte die schwedische Must das nicht auch versucht.“ Er persönlich habe beispielsweise exsowjetische Radarkomponenten aus Lettland in einem Pkw und mit Hilfe seines Diplomatenpasses nach Schweden transportiert.

Die jetzigen Enthüllungen führten unmittelbar zu Forderungen nach einer neuen Untersuchungskommission zu den Hintergründen der „Estonia“-Katastrophe. Der Friedens- und Konfliktforscher Wilhelm Agrell meint: Auch wenn keinerlei Zusammenhang zwischen vorherigen Schmuggelaktionen und dem Untergang bestünde, sei dies eine Information, die der damaligen Havariekommission vorenthalten worden sei. Möglicherweise aufgrund außenpolitischer Rücksichtnahme, oder aber auch um Verschwörungstheorien von vorneherein den Boden zu entziehen. Nun ist genau das Gegenteil passiert: Die Verschwörungstheorien haben frische Nahrung bekommen.