Gleichheit ohne Wahl

Karen Pfundt denkt die Familie neu und entwirft eine andere Politik für Kinder und Familien. Dieses Buch muss man lesen

VON WARNFRIED DETTLING

Von der laufenden Legislatur wird die Agenda 2010 in Erinnerung bleiben und weiterwirken – und hoffentlich auch der Paradigmenwechsel in der Familienpolitik, den Renate Schmidt temperamentvoll, mit guten Argumenten und in einem breiten Bündnis vorangetrieben hat. Eine neue Politik für Kinder und für Familien vollzieht endlich nach, worüber in der fachlichen Debatte längst weitgehend Einigkeit besteht.

Das wird einmal mehr deutlich durch das vorzügliche Buch von Karen Pfundt, dem man eine weite Verbreitung wünschen möchte. Der etwas betuliche Titel „Die Kunst, in Deutschland Kinder zu haben“ ist äußerst unglücklich gewählt. täuscht. Das Buch ist kein weiteres Traktat aus der Ratgeber- oder Erbauungsliteratur, sondern eines der wichtigsten Bücher der letzten Jahre zum Thema Familie: international vergleichend, analytisch wie konzeptionell stark, die notwendige Veränderung der gesellschaftlichen Praxis immer im Blick. Es vereint auf glückliche Weise Kompetenzen, die selten zusammenkommen: persönliche Erfahrung und Betroffenheit (die Autorin lebt mit Partner und Tochter in Berlin), wissenschaftliche Analyse und breite Recherche und eine flotte, anschauliche Sprache, die auch noch eine angenehme Lektüre beschert.

Zunächst beschreibt die Autorin die real existierende Familiensituation in Deutschland und was diese für Mütter, Väter und Kinder bedeutet. „Was ist in Deutschland eigentlich so anders? Wer oder was verhindert, dass deutsche Frauen genau so selbstverständlich wie französische und dänische zugleich Mütter und berufstätig sein können?“ Die Antworten der Autorin sind breit gestreut. Stichworte sind etwa die Ambivalenz des Elternurlaubes (Einstieg in den Ausstieg, „Mütterfalle“); Kinder als private Angelegenheit; die Bilder, die unsere Gesellschaft für Mütter bereit hält („Rabenmütter“ versus „faule Hausfrauen“).

Das zweite, historische Kapitel zeichnet den Weg von der Hausfrauenehe zur Doppelverdienerfamilie vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart nach. Dabei zeigt Karen Pfundt, wie in Deutschland das Ideal von Mütterlichkeit im Gefolge von Romantik und Idealismus gesellschaftlich konstruiert wurde – Motto: eine „gute“ Mutter arbeitet nicht. Dieses Postulat hatte freilich immer auch ganz anderes im Sinn als Kinder und Familie, es sollte helfen, die alte Ordnung zu stabilisieren oder später im Kalten Krieg die Überlegenheit im Wettbewerb der Systeme zu gewährleisten.

„Millionen innerlich gesunder Familien mit rechtschaffen erzogenen Kindern sind als Sicherung gegen die drohende Gefahr aus dem Osten mindestens ebenso wichtig wie alle militärische Sicherung“, argumentierte der westdeutsche Familienminister noch Ende der 1950er-Jahre. Es waren und sind diese kulturellen Blockaden, die Deutschland nicht nur in der Familienpolitik in eine Sackgasse manövriert haben.

Im dritten Kapitel entwirft Karen Pfundt neue Familienbilder und eine andere Politik für Kinder und Familien. Sie relativiert die Fixierung auf Geld und Transfers und fordert andere Prioritäten: von der Betreuung bis hin zu einer Restrukturierung der Arbeitswelt. Von besonderer Bedeutung erscheinen dabei zwei Aspekte: Bildung und Chancengleichheit für Frauen. Die Autorin rückt die Themen vom Rand in die Mitte der Gesellschaft. Eine andere Politik für Kinder und Familien ist die Bedingung für den Erfolg auf ganz unterschiedlichen Gebieten – von der sozialen Inklusion junger Menschen bis hin zu wirtschaftlichem Wachstum. Und: Karen Pfundt schiebt Nebelbänke weg, hinter denen alle Katzen und Leitbilder grau sind. Die Autorin plädiert für weniger Wahlfreiheit und mehr Gleichheit.

Dieser auf den ersten Blick missverständlichen Maxime liegt gleichwohl die aus dreißig Jahren gesättigte Erfahrung zugrunde: Trotz aller Bemühungen gibt es keine wirkliche Wahlfreiheit für Frauen, vor allem für qualifizierte Frauen. Die Agenda ist überdies längst weitergewandert – von der Wahlfreiheit zu einem gleichen Zugang beider Geschlechter zu Familien- und Arbeitswelt.

So steht am Ende das Paradoxon, das die Autorin begreiflich zu machen versucht: Erst eine Politik, die sich in diesem Sinne an dem Wert der Gleichheit orientiert, schafft die Voraussetzungen, dass es wieder mehr Kinder und Familien gibt. Allgemeiner gesagt: Das Land wird erst so in sozialer und in wirtschaftlicher Hinsicht wieder „produktiv“ (im weiten Sinne). Um es noch schärfer zuzuspitzen: Wahlfreiheit wird es erst geben, wenn man nicht mehr wählen muss, sondern beides haben kann – Familie und Beruf, als Mann oder Frau, mit weniger oder mit mehr Qualifikationen.

So betrachtet, und darin liegt der besondere Wert dieses Buches, ist jeder Versuch, die Familie neu zu denken, immer auch mehr als das, nämlich ein Beitrag, die Gesellschaft insgesamt neu zu denken oder, politisch gewendet, ein Stück Entwicklungspolitik für ein entwickeltes Land. Wer dieses Buch nicht liest, ist selber schuld.

Karen Pfundt: „Die Kunst, in Deutschland Kinder zu haben“. Argon Verlag, Berlin 2004, 350 Seiten, 18,90 Euro