Zucker fürs deutsche Gemüt

In Deutschlands Universitätsstädten wird in den Wochen vor Weihnachten der Heinz-Rühmann-Klassiker „Die Feuerzangenbowle“ gezeigt. Der Durchhaltefilm aus dem Jahr 1943 ist damals wie heute Labsal für durch Verluste gezeichnete Seelen. Und fungiert als heimlicher Ort der Versöhnung

VON MARTIN REICHERT

„Dieser Film ist eine Liebeserklärung auf die Schule, aber es kann sein, dass die Schule dies gar nicht merkt“ (Vorspann zum Film „Die Feuerzangenbowle“).

Der November ist überstanden, der Monat der heraufziehenden Kälte, der nasskalten Depression, der Monat, in dem die Deutschen gewöhnlich kollektiv durchdrehen: Novemberrevolution, Marsch auf die Feldherrenhalle, Mauerfall – der November ist der Monat, in dem es einfach nicht mehr geht, Schluss, aus. Doch im Dezember naht Tröstliches: Adventssonntage, Lichterglanz, Weihnachten, das deutscheste aller Feste und, jedes Jahr aufs Neue, der deutscheste aller Filme: „Die Feuerzangenbowle“.

Es handelt sich, genau genommen, um den Durchhaltefilm für Bildungsbürger, in dem eine bildungsbürgerliche Idylle beschworen wird, deren Attraktivität fast ungebrochen alle Wirren der Geschichte überstanden hat – trotz ihrer Verstrickung in den Nationalsozialismus. „Die Feuerzangenbowle“ ist eine filmische Erzählung, die alle Generationen vereint, und das nicht nur vor dem Bildschirm oder der Leinwand: Er handelt von der Sehnsucht nicht allein nach Kindheit, sondern ebenso nach Unschuld. Und auch nach einem Deutschland, das ohne Erinnerungen an Auschwitz, an Nationalsozialismus und Bombenkrieg ist.

Burschenschaftler, Mathematikstudenten, Juristen und Antifa-Asta-Mitglieder sitzen alljährlich friedlich vereint im Uni-Kinosaal und schauen den Filmklassiker mit Heinz Rühmann – anschließend geben sie sich gemeinsam die Kante, eben mit Feuerzangenbowle. Ein so gefühlsstiftendes wie gedankenvernebelndes Gemisch aus Rotwein, Orangensaft und Rum. Sie wissen genau, dass der Film 1944 Premiere hatte, dass die Idylle – wie immer – trügt. Und genau diese Ambivalenz macht den Film erst zum Kult.

Das im Film abgebildete Gymnasium gab es nie, es handelte sich um ein Miniaturmodell, das vor die Linse der Kameras geschoben wurde. Der gesamte Film wurde auf dem Freigelände der Ufa in Potsdam-Babelsberg gedreht, während nur einige S-Bahn-Minuten entfernt Berlin bereits in Schutt und Asche lag. Ein leichtes Gruseln überkommt den Betrachter – ein Schauer wie beim Hören der NS-Schlager „Lili Marleen“ oder „Ich weiß, es wird einmal ein Wunder geschehen“. Und dann werden tausend Märchen wahr: auch das von Frieden und Harmonie.

Der Film „Die Feuerzangenbowle“ entstand nach einer Romanvorlage von Heinrich Spoerl, dessen volkstümlich-heitere Bücher während des Nationalsozialismus populär waren – deutlich beliebter jedenfalls als nationalsozialistische Machwerke wie Schenzingers „Hitlerjunge Quex“. Die Handlung spielt während der Weimarer Republik, also nicht während der „Neuen Zeit“ des Nationalsozialismus, die nur anklangweise, also zwischen den Zeilen auftaucht. Damit unterscheidet sich die „Feuerzangenbowle“ allerdings kaum von anderen zeitgenössischen UFA-Produktionen, die ebenfalls meist mit historischem Dekor versehen waren. In seiner Rückwärtsgewandtheit nimmt dieser Film das Ende des „Tausendjährigen Reiches“ jedoch bereits vorweg, er antizipiert auf seine Weise der Deutschen Unfähigkeit, zu trauern. Ein Durchhaltefilm in und vor seiner Zeit: durchhalten, bis endlich Frieden ist.

Der Traum von einer kopfsteingepflasterten Idylle – weder Feldweg noch großstädtischer Asphalt böten diesem Traum den richtigen Untergrund –, ein Kleinstadttraum, in dem der gebildete Bürger den Ton angibt. Der Film ist eine virtuelle Rückkehr an einen Ort, an den es kein Zurück gibt – Nostalgie ist das Vehikel. Kein Wunder, dass die „Feuerzangenbowle“ im universitären Milieu zwischen Tübingen und Marburg geschätzt wird, schließlich ist man selbst schon viel dichter an jenem Dr. Pfeiffer mit drei f, einem vor dem ei und zweien dahinter, der die akademischen Weihen bereits hinter sich hat und eigentlich längst im bürgerlichen Leben steht.

„Die Feuerzangenbowle“ ist der Lieblingsfilm mehrerer Generationen, weil er eine generationenübergreifende Verständigung erlaubt: In der Schule waren alle einmal, und alle haben dort unter merkwürdigen Pädagogen („Paukern“) gelitten. Beim Anschauen der „Feuerzangenbowle“ ist man plötzlich sehr nah dran am Lebensgefühl der Großeltern: „Wie mögen die sich gefühlt haben, als sie jung waren?“

Schulzeit eint eben auch, weil es eine gemeinsame Leidenszeit war, man bildete eine Opfergemeinschaft – die nationalsozialistische Schicksalsgemeinschaft mit all ihrer schuldhaften Verstrickung bleibt außen vor. Kein Nazi marschiert durch den Film, niemand trägt eine Uniform – umso erstaunlicher, als dies in allen Unterhaltungsfilmen der NS-Zeit doch Pflicht war. Nicht einmal Sportunterricht wird erteilt.

Es ist nicht die faktische Schuld, sondern die ersehnte Unschuld, der in diesem Film Rechnung getragen wird – allerdings wird während der eventartig organisierten Vorführungen heutiger Tage nicht wirklich lauthals gelacht, sondern geschmunzelt, eine eher besinnliche, mitunter auch depressive Variante des Lachens – es lässt den historischen Hintergrund im Gemüt, wenn auch stockend, gerinnen.

Reichsmarschall Hermann Göring allerdings soll schallend gelacht und sich auf die Schenkel geklopft haben, als er den ursprünglich zensierten Film – man hatte Bedenken, dass er das Ansehen der ohnehin raren Lehrerschaft beschädigen könnte – zum ersten Mal sah. Adolf Hitler gab daraufhin den Befehl, dass „Die Feuerzangenbowle“ dem deutschen Volk nicht weiter vorenthalten werden dürfe – eine einsame Entscheidung, getroffen in der ostpreußischen Wolfsschanze, in der ihn zuvor Heinz Rühmann besucht hatte, mit einer Filmrolle unter dem Arm, um Hitler von der Harmlosigkeit des Streifens zu überzeugen.

„Der Untergang“, das ist der Führer privat. „Die Feuerzangenbowle“, das ist das Bildungsbürgertum des Dritten Reichs in seiner Herzkammer. Ein Stück Alltagskultur inmitten des tobenden Irrsinns – es wurde offensichtlich weiter geliebt, gelebt, geträumt. Projektionen: Beim Betrachten des Films werden die Enkel zu Komplizen, verschämt, unausgesprochen, denn mit Unmenschen darf niemand Mitgefühl haben. Dabei gibt es weit über nationalkonservative und rechtsradikale Kreise hinaus ein Reservoir an Mitgefühl und Trauer um das Leid, das die eigenen Verwandten und Vorfahren während des Zweiten Weltkrieges erfahren haben.

Denn dieses Leid, nicht die Schuld, gehört in jedem Fall zur Familiensaga: die alte, muffig riechende Munitionskiste im Keller mit Namen und Adresse der Großmutter, die die letzen Habseligkeiten des an der Front verreckten Großvaters darin zurückgesandt bekommen hatte. Die Porzellanschale, die Tante Erna unter den Trümmern des ehemaligen Familienbesitzes hervorgebuddelt hatte, darin ein Sprung. Die Erinnerungen an die Bombennächte, die Angst, all die Verluste von Menschen und Besitztümern, die Vertreibung – in jeder deutschen Familie gibt es eine private Saga des Zweiten Weltkrieges, die von Generation zu Generation weitergereicht wird – ähnlich den Gerätschaften, die zur Herstellung einer Feuerzangenbowle nötig sind.

„Die Feuerzangenbowle“ ist die Rolle rückwärts, sie beschwört die „gute, alte Zeit“, eine Zeit der Unschuld, die die Zeit der gymnasialen Oberstufe in ihrer Präpotenz und Behütetheit wie kaum eine andere Lebensphase symbolisiert.

So wie die „Rocky Horror Picture Show“ – ebenfalls ein Kultfilm, wenn auch aus den Siebzigern, dessen öffentliche Vorführungen die Interaktion des Publikums einschließen – die sexuelle Befreiung thematisiert, berührt „Die Feuerzangenbowle“ übrigens den vorherigen Zustand, nämlich den der sexuellen Unschuld: Sex findet in der „Feuerzangenbowle“ nicht statt. Und Heinz Rühmann entscheidet sich am Ende für die naive, keusche Eva. Den Vamp aus Berlin, die ihm nachgereiste Verlobte, lässt er links liegen.

Vorbei, alles vorbei. Der Film zeigt den Traum von einem vormodernen Deutschland der Dichter und Denker, einem kleinstädtischen Deutschland der Klassik, das seine Identität aus der beschaulichen Provinz bezogen hatte – ohne von der Weltherrschaft zu träumen. Das Goethe-Institut zeigt den Film gerne im Ausland, besonders zur Weihnachtszeit, denn er eignet sich gut, um deutsche Kultur und deutsches Gemüt und seine Gemütlichkeiten zu vermitteln.

Er eignet sich freilich ebenso gut, um den Umgang der Deutschen mit ihrer Geschichte zu erklären. Eine Geschichte, die wehtut und beschämt. Und unter diesem harten Panzer schlummert eine heimliche, da unaussprechliche Liebe zu dem Land, in dem man aufgewachsen ist und dessen Sprache man spricht.

Das Kino ist eben ein Ort der Träume, der Projektionen, der Momente von flirrenden Sympathien. Gott sei Dank gibt es danach etwas stramm Alkoholisches. Hinterher kann man dann sagen: „Ich kann mich an nichts erinnern.“

„Wahr sind auch die Erinnerungen, die wir mit uns tragen; die Träume, die wir spinnen, und die Sehnsüchte, die uns treiben. Damit wollen wir uns bescheiden“ (Schlusswort aus dem Film „Die Feuerzangenbowle“).

MARTIN REICHERT, 31, Autor für tazzwei und taz.mag, lebt in Berlin. Die letzte Feuerzangenbowle hat er mithilfe von Kochtopf und Gurkenhobel hergestellt