Raubkopien von Lisas Liedern

Kriegsschauplatz Tschetschenien: Ob in Filmen, Novellen oder Liedern, in diesem Krieg sind alle Verlierer

In den Neunzigerjahren staunte ich in Berlin nicht schlecht über die vielen amerikanischen Kriegsfilme, in denen Chuck Norris die Vietnamesen bekämpfte. Sie liefen eine Zeit lang fast täglich im Fernsehen und zeigten sehr überzeugend, wie ein verlorener Krieg einen dauerhaften Dachschaden bei einer ganzen Nation verursachen kann.

In diesen Filmen kam Chuck immer mit guten Absichten nach Vietnam. Er wollte nur seine vietnamesische Exfreundin und das Kind retten, die in einem Vietkong-Lager saßen. Zu Hause in Amerika verkaufte er seinen alten Ford, erwarb dafür einen gebrauchten Helikopter, ein Schlauchboot, Granatwerfer und überfiel damit erneut die sozialistische Republik Vietnam, diesmal privat. Er metzelte einige Garnisonen nieder, brannte Dörfer ab und fand seine Familie. In der letzten Sekunde wurde jedoch die Frau immer erschossen. Sie sah nicht wirklich gut aus und hatte in Amerika sowieso nichts zu suchen.

In den letzten Jahren sind die amerikanischen Kriegsfilme über Vietnam von den Bildschirmen verschwunden. Dafür schaue ich mir jetzt öfter russische Filme über die zwei tschetschenischen Kriege auf Video an. Jedes Jahr werden neue produziert und es werden immer mehr. Sie heißen „Spezialeinheit“, „Krieg“, „Wachposten“ und zeigen diesen Krieg als eine bösartige, aber unvermeidliche Realität, so als wäre er schon immer da gewesen. Ganz normale Jungs fahren auf ganz normalen Panzern von Dorf zu Dorf, unterhalten sich über die Liebe, die Freundschaft, machen Zukunftspläne, verdreschen die Bevölkerung – und werden nach und nach umgebracht.

Daneben bieten russische Literaturzeitschriften und Buchläden massenweise Offiziersprosa aus Tschetschenien an. „Ich war in diesem Krieg“, „Tag und Nacht“, „Mein tschetschenisches Jahr“ heißen die Novellen. Sie sind ein einziger Vorwurf an die Zivilbevölkerung: „Während ihr vor der Glotze gesessen und Bier getrunken habt, gruben wir uns vor den Scharfschützen in die blutgetränkte kaukasische Erde ein – von verantwortungslosen Generälen allein gelassen“. Diese Bücher werden gern gelesen. Der Bürger vergleicht sein ziviles Leben mit dem der Offiziere und schließt messerscharf, es hätte also noch viel schlimmer kommen können.

Der Krieg spiegelt sich auch in der zeitgenössischen Popmusik. Der ehemalige Manager des Lesbenduos „Tatu“ wollte im September sein neues Projekt der breiten Öffentlichkeit vorstellen: Ein Mädchen namens „n.A.T.o.“ sollte als „Schwarze Witwe“ in ein Ganzkörper-Kopftuch gewickelt irgendetwas in tadschikischer Sprache singen, während im Hintergrund die schlechten Nachrichten von al-Dschasira laufen. Die Präsentation von „n.A.T.o.“, die im zivilen Leben Natascha Schewlakowa heißt und aus Georgien stammt, sollte am 11. September 2004 stattfinden. Die schicken Einladungen waren in Form von Flugtickets gedruckt. Der Manager hatte sich große Mühe bei der Werbung gegeben, in unzähligen Interviews erklärte er den empörten Moderatoren, dass „n.A.T.o.“ rein gar nichts mit dem Terror zu tun habe und als unpolitisches, musikalisches Gesamtkunstwerk verstanden werden müsse. Eine Gesellschaft, die Angst vor einem schwarzen Tuch hat, sei krank, behauptete der Manager. Gleichzeitig nannte er seine Präsentation „Terrorakt-Show“, bei der die Premierengäste von den Artisten symbolisch als Geisel genommen werden sollten. Aber dann kam die erste Septemberwoche: Flugzeuge, die ganz real in der Luft zerfetzt wurden, ein Selbstmordattentat vor der Moskauer Metro, die Kinder von Beslan.

„Wir werden trotzdem am 11. September wie geplant unsere Präsentation durchführen“, ließ der Manager noch während der Tragödie in Beslan verlauten, tauchte aber gleich danach unter. Seitdem hat man von seiner „n.A.T.o.“ nichts mehr gehört. Dafür wird eine andere Sängerin gefeiert: Lisa Umarowa, eine dreifache Mutter aus Tschetschenien. Vor dem Krieg hat Lisa in Grosny gearbeitet. Sie war dort Direktorin des Kulturhauses „Terek“. Im Krieg wurde ihr Zuhause, ihre Arbeitsstelle und praktisch ihre ganze Heimatstadt zerstört. Sie flüchtete mit den Kindern nach Moskau und arbeitet dort seitdem als Buchverkäuferin. Gleichzeitig komponiert und singt sie Lieder.

Lisa Umarowa hat nie eine Platte herausgegeben, nur einmal hat sie ihre Lieder auf Kassette aufgenommen, die sie Freunden schenkte. Diese Aufnahme wurde inzwischen tausendfach in Tschetschenien und außerhalb raubkopiert – alle hören Lisa Umarowa: die russischen Soldaten, die Tschetschenen, die Inguschen und die Moskauer. Lisas Musik ist simpel, die Texte einfach. Ihre Lieder heißen „Grosny – die Heldenstadt“, „Der blinde Akkordeonspieler“ oder „Wach auf, Russland!“. Lisa singt von den Ungeheuerlichkeiten und Leiden des Krieges, vom zerstörten Land und seinen tapferen Frauen. Dabei macht die Umarowa zwischen Tschetschenen und Russen keinen Unterschied, sie weiß, dass alle in diesem Krieg die Verlierer sind. Damit hat sie den Nerv der Leute getroffen und wäre mit Sicherheit die unbestrittene Nummer eins in der tschetschenischen Hitparade, wenn es eine solche gäbe. Ihr erstes Lied über Grosny wurde bereits zur Hymne dieser Stadt erklärt: „Wie ein Adler, geboren zum Fliegen/ In allen Jahren in allen Kriegen/ hast du nicht nachgegeben/ bist du nicht kleinzukriegen/ Grosny! Du bist eine Heldenstadt// Wie viele Bomben wurden abgeworfen/ Wie viele Kugeln wurden verschossen/ Ich kenne deine Wunden und Ruinen/ Unsere Kindheit ist verschüttet unter ihnen/ Grosny, du bist heute eine Heldenstadt.“ WLADIMIR KAMINER