Das neue Fräuleinwunder

Jung und weiblich sind deutsche Stimmen neuerdings. So unterschiedlich die Erfolgsbands musikalisch sind – sie eint der Wille ihrer Plattenfirmen, am Erfolg von Wir sind Helden zu partizipieren. Von unabhängigen Labels lernen und imitieren, was erfolgreich ist – und seien es auch visuelle Schlüsselreize

Die Kanäle für deutschsprachige Musik verstopft die schnelle Produktion

VON THOMAS WINKLER

Es weihnachtet sehr. Selbst in der zuletzt doch arg gebeutelten Musikindustrie regen sich festliche Gefühle. So verkündete Gerd Gebhardt, Vorsitzender der deutschen Phonoverbände, in einem Rundschreiben an die Presse, dass sich vor den Feiertagen der Umsatz erfreulich entwickle und das Weihnachtsgeschäft der Branche ein Gesamtergebnis von mehr als 450 Millionen Euro bescheren wird. Auch im sächsischen Bautzen fand unlängst eine Feier statt: Begangen wurde die Verleihung einer Schallplatte aus Platin an die dort beheimatete Rockband Silbermond, die damit für die 200.000 verkauften Einheiten ihres ersten Albums mit dem provokativ jugendlichen Titel „Verschwende deine Zeit“ geehrt wurde.

Stolze Zahlen. Man muss nur das Radio oder das Musikfernsehen einschalten. Die von deutschen Musikern so vehement geforderte umstrittene Radioquote scheint gar nicht mehr nötig zu sein, ist deutsche Musik im Radio doch auch ohne sie in diesem Jahr bereits präsenter als früher. Im Oktober stieg ihr Anteil bei den öffentlich-rechtlichen Sendern von 7,65 auf 9,96 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Auch die Privatstationen verzeichneten einen Zuwachs von 8,12 auf 9,59 Prozent. Einzelne Sender, wie das in Berlin und Brandenburg zu empfangende Radio Fritz, kommen gar auf über 20 Prozent.

Da wundert es nicht, dass Universal, einer der großen multinationalen Unterhaltungskonzerne, nun mit der eben erschienenen und intensiv beworbenen Compilation „Perfekte Welle – Musik von hier“ ausdrücklich aufs Deutsche setzt. Man singt Deutsch auf dieser CD. Damit fährt Universal interessanterweise exakt die Politik, wegen der Exchef Tim Renner gefeuert wurde – nach seiner Darstellung wenigstens. Was auch immer die realen Gründe für Renners Abgang gewesen sein mögen, mit dieser Entwicklung wird wieder einmal die Gültigkeit eines der ehernen Gesetze der Branche bewiesen: Verkauft wird, was sich verkauft. Und wie: Mitte November wurden fünf der sieben Spitzenplätze der deutschen Albumcharts von deutschsprachigen Produktionen gehalten.

Sie sind also doch zu hören, die deutschen Stimmen, die angeblich nirgendwo zu hören sind. Nur: Es sind andere Stimmen, als es sich manche, eher ältliche Initiatoren der Quotenforderung vorgestellt haben dürften. Denn, was auffällt: Viele dieser Stimmen sind jung und – abgesehen von den Etablierten wie Rammstein, Die Ärzte oder Toten Hosen – sie sind vornehmlich weiblich. So singt auf neun von 21 Songs auf „Perfekte Welle – Musik von hier“ eine Frau: eine bis vor kurzem unerhörte Quote.

Die Protagonisten des neuen Fräuleinwunders heißen Klee und Juli, Wunder und Mia und eben Silbermond. Die Urahnen dieser deutsch singenden Bands mit Frontfrau muss man allerdings vorzugsweise im Ausland suchen: Mal sind es in die Popgeschichte eingegangene Bands wie Jefferson Airplane, Fleetwood Mac, Blondie oder Siouxsie & the Banshees, mal One-Hit-Wonder wie Primitives oder Velveteen. Hierzulande gab es einmal Nena, die Band, bevor sie zu Nena, der Wiederbelebten, wurde. Das aktuell vorherrschende Geschäftsmodell aber haben Wir sind Helden entworfen – ausgerechnet eine Band, die sich wie kaum eine andere gegen Verwertungszusammenhänge und Marketingmechanismen sträubt. Vor allem aber auch eine Band, die von so ziemlich jeder Plattenfirma zwischen hier und Hilversum abgelehnt wurde, bevor sie mit der vergleichsweise bescheidenen Unterstützung eines unabhängigen Labels an die Spitze der Charts gelangte – was bei den momentan eher bescheidenen Gesamtumsatzzahlen keine allzu große Kunst ist – und sich dort auch noch Monate lang hielt.

So setzt ein altvertrauter Musikindustrie-Mechanismus ein: Wir imitieren, was erfolgreich ist. Dass der ins Kitschige lappende Pop von Klee musikalisch kaum etwas mit dem punkigen Rock von Silbermond zu tun hat, dass die Fusion aus düsterem Metal und Elektronik von Wunder geradezu diametral dem fröhlichen Gitarrenpop von Juli entgegensteht, spielt dabei keine Rolle. Weil A & Rs, die für „Artist & Repertoire“ zuständigen Mitarbeiter von Plattenfirmen, meistens Männer sind und Männer bekanntermaßen besser gucken als zuhören können, wird das Erfolgreiche kurzentschlossen anhand von visuellen Schlüsselreizen nachgeformt: Ein Mädchen (langhaarig-hübsch) singt, Jungs (zottelig-rockig) machen Musik, fertig sind die Chartsstürmer (unglamourös-sympathisch).

Dass Musikverkaufen tatsächlich so funktioniert, können Klee bestätigen. Die Kölner mag es schon seit Mitte der Neunzigerjahre geben, zu Beginn noch unter dem Namen Ralley, mittlerweile aber wird man, obwohl bei einer Independent-Firma und noch in bescheidenem Maße erfolgreich, in garantiert jedem Interview auf Wir sind Helden und mögliche Parallelen angesprochen: „Das nervt“, sagt Sten Servaes bei einer Apfelschorle in der Kreuzberger Kneipe, die ein gewisser Herr Lehmann über die Berliner Stadtgrenzen hinaus berühmt gemacht hat, „dass man ständig erklären muss, dass man auf keinen Zug aufgesprungen ist.“ Aufspringen wäre einfach gewesen für den Keyboarder und Gitarrist Tom Deininger, die beiden Drittel von Klee, die für die musikalische Umsetzung der Texte von Sängerin Suzie Kerstgens verantwortlich sind: „Tom und ich hatten Anfragen, für Juli und Silbermond Songs zu schreiben.“ Sie haben abgelehnt und nun keine Platin-Platte an der Wand hängen.

Tatsächlich setzte im Moment des ebenso unerwarteten wie überwältigenden Erfolges von Wir sind Helden hektische Betriebsamkeit ein in der Branche. Weil das Modell Wir sind Helden aber seine Attraktivität zu einem Großteil aus seiner Authentizität bezog, war klar, dass man die Imitatoren nicht einfach durch ein Casting ermitteln konnte wie eine Boyband. Also begaben sich die Scouts der Firmen auf die Suche nach bereits existierenden, nach Möglichkeit blutjungen Bands. Da das Angebot an deutsch textenden Damen aber auch anderthalb Jahrzehnte nach der Hamburger Schule noch recht überschaubar war, wurden Bands, die wie Juli oder Silbermond mit englischen Texten begonnen und mit ihnen unter Vertrag genommen worden waren, kurzerhand umgeschult.

Der Rest ist Promotion. „Weil das eine schon erfolgreich war, schiebt man schnell noch was hinterher“, sagt Klee-Sängerin Kerstgens, „das funktioniert dann auch, wenn es so penetriert wird mit der Maschinerie des Geldes.“ Als Abfallprodukt profitiert auch ihre Band vom Hype um die singenden Mädchen, während sie zu ihren Anfangszeiten deshalb auf Vorbehalte gestoßen waren, „gerade weil ich ein Mädchen bin“, und auch weil für ihren eher gefühligen Pop damals „noch nicht die Ohren da waren“. Nun aber sind die Konzerte oft gut besucht, verkauft sich auch das aktuelle Album „Jelängerjelieber“ besser als erwartet, und das Trio kann endlich von der Musik leben, wenn auch nicht übermäßig üppig.

Dass das Modell der Jungsband mit Sängerin nun zurückkehrt, liegt, glaubt Sten Servaes, auch an rein praktischen Gründen. Frauenprojekte, die die Industrie versucht aufzubauen, scheiterten oft daran, dass es schlicht nicht genug Frauen gäbe, die ausreichend gut ihre Instrumente spielen könnten. Es reiche nicht, um eine Authentizität suggerieren zu können, die längst unverzichtbar geworden ist, um selbst Popmusik erfolgreich verkaufen zu können. Kerstgens dagegen meint, dass ihr eigener Bandkollege da einem Vorurteil aufsitzt: „Es ist glaubwürdiger, wenn auch mindestens ein Mann dabei ist.“ Einer rein weiblichen Band, glaubt sie, würde man sofort unterstellen, dass die Mitglieder gecastet seien und eigentlich nicht spielen könnten. Das sei, so die Sängerin, die „traurige Wahrheit.“

Wie auch immer sich die momentane Hausse des Modells Wir sind Helden auch erklären mag: In den Achtzigerjahren wurde die Neue Deutsche Welle, in den Neunzigern deutschsprachiger HipHop dadurch kommerziell zugrunde gerichtet, dass jedes noch so fürchterliche Projekt, das halbwegs ins avisierte Marktsegment zu passen schien, eingekauft und möglichst schnell auf den Markt geworfen wurde. Der Umstand, dass große Plattenfirma es sich in diesen Zeiten nicht leisten, eine Band über mehrere Alben hinweg aufzubauen, dürfte also auch hier dazu führen, dass die immer noch nicht allzu ausgeprägten und durch das Ende einer Sendung wie Charlottes Roches „Fast Forward“ sich weiter verengenden Verwertungskanäle für deutschsprachige Musik von schnell zusammengeschustertem Material verstopft werden.

Da kann man nur noch ein schönes Fest wünschen. Und fürs neue Jahr den guten Vorsatz, doch mal ausnahmsweise nicht die alten Fehler immer wieder und wieder zu wiederholen. Eins aber ist so sicher wie das Weihnachtsgeschäft: Das wird ein frommer Wunsch bleiben.

„Perfekte Welle – Musik von hier“ (Universal); Silbermond: „Verschwende Deine Zeit“ (BMG); Juli: „Es ist Juli“ (Island/Universal); Klee: „Jelängerjelieber“ (Modernsoul/ Ministry of Sound/ Edel); Wunder: „Was hält uns wach“ (WEA)