Vom Technokraten zum Sterblichen

Max-Frisch-Revival auf Schweizer Bühnen: Nachdem „Stiller“ in Basel als bebilderte Schullektüre scheiterte, gelingt in Zürich nun ein „Homo Faber“ – wenn auch nur knapp

Er ist vielleicht das meistgelesene Buch des 20. Jahrhunderts. Standard-Schullektüre, Pubertätsbegleiter der heute 35- bis 45-Jährigen, flotter Reiseroman und polyglotter Inzest-Krimi mit mythologischem Überbau. So oft wurde Max Frischs „Homo Faber“ zur Parabel des modernen Menschen erklärt, dass man darüber nur noch müde lächeln kann.

Warum man das Buch heute noch auf die Bühne bringen soll, scheint Stefan Pucher zunächst nicht eingefallen zu sein, denn er greift gleich zur ironischen Distanzierung: Die Bühne von Barbara Ehnes ist ein Talkshow-Podium im 50er-Jahre-Fernsehstudio, in das vier graugesichtige Max-Frisch-Doubles schlurfen, schließlich ist der technikgläubige Ingenieur Werner Faber das Alter Ego des ehemaligen Architekten Max Frisch. Vierfach geklont, ermüdend, latent frauenverachtend und lebensüberdrüssig, nötigen sie uns in der Bekenntnisshow ihre erkaltete Psyche auf. Später setzt sich die amerikanische Freundin Evy als rotohriges Playboyhäschen dazu oder die alte Liebe Hannah, frustriert von der „Krankheit Mann“.

Wie so oft bei Romanadaptionen entwickelt sich aus der frontalen Anordnung kein theatraler Zugriff, bleibt es zunächst eine Mischung aus Aufsagetheater und flacher Nummernrevue. Fabers Welt ist zweidimensional und schal, genau wie die Inszenierung in ihrem ersten Teil.

Wer zu genau auf die Dinge sieht, nimmt ihnen den Zauber, und wer sein Schicksal leugnet, hat selber Schuld. Doch während man sich noch enttäuscht zurücklehnt, geschieht Erstaunliches. Als Walter Faber sich in die junge Sabeth verliebt, die eigentlich seine Tochter ist, verjüngt er sich zu einem fünften Faber-Klon – und während auf Video hinter ihm bereits der Todesgeier blinzelt, verwandelt Daniel Lommatzsch den Nüchternen in einen leidenschaftlichen Zweifler, kommt die ausufernde Rezeptionsgeschichte von 47 Jahren ins Spiel: Zürcher Intellektuelle berichten auf der Leinwand von ihren Leseerfahrungen. Ein Roman von zeitloser Gültigkeit, schwadroniert Homo Frisch selbst, während er die blondperückte Sabeth (Katja Kolm) küsst. Frauenfeindliche Abziehbilder wiederholen bekannte feministische Vorwürfe an den Autor – Gestalt geworden führen sie den röhrenden Reich-Ranicki-Frisch-Faber in die Gummizelle ab.

Auf einmal verschwimmen die Grenzen zwischen Welt und Vorstellung: Dies könnte auch ein Künstlerdelirium sein oder eine Altherrenfantasie. Oder eben doch eine fürchterlich unabwendbare Tragödie, in der ein Mann den Tod des Mädchens verschuldet, das ihn ins wahre Leben zurückgeführt hat. Auf einmal betrifft uns die Metamorphose des Technokraten zum Sterblichen zutiefst, wird Flachheit vielschichtig.

Der letzte, sechste Klon ist Robert Hunger-Bühler, projiziert in einen riesigen antiken Gipskopf. Ein altes, offenes Kindergesicht, das Liebesworte wispert: Der zum Gefühl Erwachte ist eingeschlossen in ein Schicksal von griechischer Wucht. Faber-Frisch, der Unberührbare, ist zum Romantiker geworden, zum zärtlichen Worte-Erfinder – und zum Künstler. Nach der Pause sitzt Hunger-Bühler allein auf der Bühne, verfallen an Körper und Seele. Das Video vervielfältigt ihn tausendfach, dann balanciert er auf einem Flugzeuggerippe. Die menschliche Hybris ist zu Ende, das Flugzeug abgestürzt.

So endet der Abend als pathetisch-romantische Betrachtung über die Unausweichlichkeit des Todes und die Einsamkeit des Menschen vor der universalen Ungewissheit. Ein großartiges Beispiel dafür, wie Romane doch auf der Bühne funktionieren: dann, wenn die Form sowohl Inhalt als auch Überbau spiegelt und ganz neu erzählt.

DOROTHEA MARCUS