Von Hongkong lernen heißt Pisa lernen
: Unglücklich auf eins: Hongkong

AUS PEKING GEORG BLUME

Sind es die drei Sprachen? Die Hongkonger Regierung verlangt von ihren Schülern Dreisprachigkeit: Kantonesisch, Englisch und Chinesisch. „Hongkonger Schulen sind eine Synthese des britischen und chinesischen Erziehungssystems“, schreibt die Erziehungswissenschaftlerin Linda Murad in einer ein Jahr alten Studie. „Der britische Einfluss zeigt sich an den Schuluniformen und den geraden Tischreihen im Klassenzimmer, während der chinesische Einfluss sich beim Auswendiglernen und der Betonung harter Arbeit bemerkbar macht.“

Dennoch waren viele Hongkonger überrascht, als sie vom guten Abschneiden ihres Schulsystems im Pisa-Vergleich hörten. „Hongkonger Schüler sind die Unglücklichsten“, titelte etwa die in Hongkong erscheinende Tageszeitung South China Morning Post und prangerte an, dass laut Pisa-Studie 53 Prozent der Hongkonger Schüler sich durch die Schule nicht auf das Erwachsenenleben vorbereitet fühlen. In Wirklichkeit betrachten die meisten Hongkonger das Schulsystem als dringend reformbedürftig. Auch streiten sie im Alltag darüber mindestens ebenso viel wie die Deutschen. Wichtigster Anlass: die Sprache. Als Hongkong 1997 seinen Kolonialstatus verlor, war klar, dass man Englisch nicht mehr als Regelsprache in den Schulen verwenden wollte, stattdessen das einheimische Kantonesisch. Doch dann protestierten die besser Gebildeten – bis hundert Oberschulen erlaubt wurde, weiterhin nur in englischer Sprache zu unterrichten. Mit der Folge, dass nun die Ehrgeizigeren ihre Kinder alle auf die hundert englischen Schulen schicken wollen. Grundsätzlich aber hilft die Mehrsprachigkeit. Früher war es üblich, dass im Klassenzimmer ab der Grundschule zwar Kantonesisch durchaus gesprochen wurde (sonst hätten die meisten Kinder den Lehrer nicht verstanden), aber alle Bücher in Englisch waren. Heute benutzt man in der Regel neben dem kantonesischen Unterricht chinesische Unterrichtsmaterialien. Traditionell ist ein starkes Elitebewusstsein: Bis vor wenigen Jahren wurden die Schüler nach der 6. Klasse sogar fünfgliedrig entsprechend ihren Leistungen aufgeteilt, heute immer noch dreigliedrig. Insofern widerspricht Hongkongs Pisa-Erfolg der gewöhnliche Erkenntnis, dass mehrgliedrige Schulsysteme schlechtere Resultate bringen.

Guter 4. Platz: Niederlande
AUS BERLIN JEANETTE GODDAR

Zugegeben: Kees, Ruud und Aliya haben mit Michael, Hakki und Sandra etwas gemeinsam. Im Pisa-Alter lernen niederländische Jugendliche genauso wenig alle miteinander wie deutsche. Auch das Polderland setzt auf ein dreigliedriges Schulsystem; bis vor fünf Jahren sogar auf ein viergliedriges. Die 15-Jährigen, die sich bei Pisa-II als kleine Mathe-Cracks entpuppten, besuchen Schultypen, die glatt aus Deutschland importiert sein könnten. So genannte Vmbo-Schulen bereiten in vier Jahren auf eine Berufsausbildung vor; fünfjährige Havo-Schulen auf eine höhere oder Fachausbildung; sechsjährige Vwo-Schulen auf Universität oder Fachhochschule. Die deutschen Kultusminister jubilieren: Endlich ein erfolgreiches Pisa-Land, das die Schüler nicht notorisch zusammenwürfelt!

Nur: Bevor sich ihre Wege trennten wurden Kees, Ruud und Aliya doppelt so lange zusammen unterrichtet wie ihre deutschen Altersgenossen. In den Niederlanden setzt die Schulpflicht am Monatsersten nach dem fünften Geburtstag ein. Fast alle Kinder werden schon mit vier eingeschult. Acht Jahre lernen sie dann an „basisscholen“, an denen fünfeinhalb Stunden Unterricht in ein Ganztagskonzept eingebettet sind. Sozial benachteiligte und Migrantenkinder werden mit etwas Glück an einer „breiten Basisschule“ mit mehr Betreuung, mehr Sprachförderung und nicht zuletzt mehr Mitteln untergebracht. Für ein Migrantenkind bekommt eine Schule fast doppelt so viel Geld. Dennoch ist auch in den Niederlanden das niedrige Niveau der über 500 „schwarzen Schulen“ landesweit ein großes Problem. Für alle Schultypen gilt, ähnlich wie in Skandinavien: viel Autonomie, aber auch viel Kontrolle. Jede Schule entwirft ihre Lernziele, Lehrmethoden und Schwerpunkte selbst und legt sie der Kommune und dem Bildungsministerium zur Absegnung vor. Im Gegenzug sind Schulinspektoren regelmäßige Gäste und landeseinheitliche Tests sowie Schulrankings an der Tagesordnung. In den Niederlanden ist man sich einig, dass vor allem die Freiheit der Schulen zu Individualisierung und damit qualitativ hochwertigem Unterricht führt.

Diese Freiheit führt aber zu noch etwas: zu viel Konkurrenz. Ab der ersten Klasse können Eltern frei wählen, wo sie ihr Kind unterbringen. Und wem die bestehenden Angebote nicht passen, der schafft mit wenig Mühe und staatlicher Unterstützung selber eins. Sieben von zehn Schulen sind Privatschulen.

Nur Achtzehnter: armes Österreich
AUS WIEN RALF LEONARD

Eine Zweiklassengesellschaft im Klassenzimmer. Das ist das Problem, das Österreichs Bildungsnotstand zugrunde liegt, meinen die österreichischen Pisa-Forscher. Spätestens in der vierten Klasse Volksschule müssen die Eltern entscheiden, ob sie ihre Sprösslinge an die Allgemein Höherbildende Schule (AHS) und damit Richtung Matura schicken oder an die Hauptschule und nach Absolvierung des polytechnischen Lehrgangs zur Lehre und frühen Berufstätigkeit.

Während auf dem Land der normale Bildungsweg über die Hauptschule führt, geht in Wien nur das schlechteste Viertel der Schülerinnen und Schüler nichts ins Gymnasium. In manchen Bezirken werden die Hauptschulen zu Verwahranstalten für Migrantenkinder. Nur die wirklich Zähen, nämlich 5,8 Prozent, schaffen es, nach dem Hauptschulabschluss an ein Oberstufenrealgymnasium, das zur Matura führt, aufzusteigen.

Die Unterschiede sind eklatant. Während AHS-Schüler in Mathematik einen Mittelwert von 571 Punkten erreichten, brachten es Hauptschüler nur auf 471 und Berufsschüler gar nur auf 456 Punkte. In den anderen Disziplinen tut sich eine ähnliche Kluft auf. Nach wie vor hätten Kinder aus sozioökonomisch benachteiligten Familien durch die frühe Selektion trotz gleicher Befähigung geringere Chancen, so Günter Haider, Leiter der österreichischen Pisa-Kommission.

In den letzten Jahren sind die Lehrpläne modernisiert worden: an der AHS-Unterstufe schon vor Pisa I, an der Oberstufe (9. bis 12. Schuljahr) erst mit dem vergangenen Schuljahr. Schlagworte wie „leistungsdifferenzierend“, „fächerübergreifend“ oder „projektorientiert“ finden sich dort. Den Schülern seien Teamfähigkeit, Problemlösungskompetenz und Eigenständigkeit zu vermitteln. Nicht alle Lehrer orientieren sich aber an den neuen Methoden und Lernzielen.

Für Eva Veits, Deutsch- und Englischprofessorin an einem Wiener Gymnasium, kam der Pisa-Absturz überraschend. An der AHS sei kein Leistungsabfall zu bemerken gewesen. Und selbst an den Hauptschulen hätten sich bereits modernere Unterrichtsmethoden durchgesetzt.

Glücklicher 24.: Polen verbessert
AUS LEIPZIG ANNA LEHMANN

Die polnischen Medien und Bildungspolitiker platzen seit Tagen vor Stolz angesichts der geistigen Klimmzüge, die polnische Zehntklässler in nur drei Jahren vollbracht haben. Von den hinteren Rängen hat sich Polen ins Mittelfeld vorgeschoben und liegt nun fast gleichauf mit Deutschland. Dazu tragen v. a. das deutlich verbesserte Leseverständnis und der von 22 auf 15 Prozent gesunkene Anteil der funktionalen Analphabeten bei.

Das Wunder von Polen leitete 1999 die damalige konservative Regierung Buzek ein, die bereits vor der ersten Pisa-Studie eine umfassende Schulreform vornahm. Diese erfasste Schulsystem, Lehrpläne, Unterricht und Besoldung. Die regierenden Sozialdemokraten dürfen nun die Früchte pflücken: „Die Reform des Bildungswesens und die Einführung des Gymnasiums sind verantwortlich für den Erfolg“, stellt der nationale Pisa-Chef Michal Federowicz fest.

Bei Pisa II wurden Schüler getestet, die die dritte Klasse des neu geschaffenen Schultyps Gymnasium, das einer Mittelschule vergleichbar ist, besuchten. Aufs Gymnasium gehen alle polnischen Schüler ab der siebten bis zur neunten Klasse. Vorher haben sie bereits eine so genannte Nullklasse und sechs Jahre Grundschule zusammen absolviert.

Insgesamt lernen Schüler in Polen also zehn Jahre gemeinsam und schreiben erst im Alter von 16 Jahren Prüfungen, die darüber entscheiden, an welcher der vier weiterführenden Schultypen sie ihren Abschluss erwerben. Am angesehensten ist das Allgemeinbildende Lyceum, dem deutschen Gymnasium vergleichbar, doch auch an den technischen Lyceen können die Schüler die Hochschulreife, genannt Matura, erlangen. Lediglich die allgemeinen Berufsschulen vergeben keine Abschlüsse, die zum Studium führen.

Die schlechten Resultate der Berufsschüler drückten den polnischen Durchschnitt bei Pisa I, denn damals wurden die 15-Jährigen beurteilt, die noch im alten zweigliedrigen Schulsystem groß geworden waren. Die Wege der Schüler trennten sich vor Einführung des Gymnasiums nach der achten Klasse, und deutlich mehr Schüler nahmen den Abzweig Berufsschule.

Das Ministerium für Schule und Sport, das die Schulen zentral koordiniert, verordnete nicht nur längere Allgemeinbildung, sondern auch mehr Bewegung im Unterricht.

In einem nationalen Bildungsplan wurde festgelegt, dass Schüler auch zum kreativen Denken und zur Selbstständigkeit zu erziehen sind. Wie, das bleibt Schülern und Lehrern überlassen. Bei der Ausgestaltung ihrer Lehrpläne haben die Schulen viel Freiheit und sollen eigene Programme entwickeln.

Eine weitere Neuerung ist, dass Absolventen pädagogischer Ausbildungen sich nicht ohne weiteres „Lehrer“ oder „Lehrerin“ nennen dürfen. Wie hoch sie die fünfstufige Leiter vom Praktikanten bis zur Professor erklimmen, wird von ihren Lehrleistungen abhängen. Jeder Lehrer spricht mit dem Schuldirektor einen Arbeitsplan ab und muss dann dokumentieren, was er/sie mit den Schülern gemacht hat. Und je besser Schüler und Lehrer arbeiten, desto höher sind Rang und Gehalt.