„Die Regeln sind für die Starken“

Freihandel alleine könne Armut nicht beseitigen, sagt Juan Somavia, Chef der Internationalen Arbeitsorganisation ILO. Von Deutschland fordert er eine Initiative für soziale Marktwirtschaft

INTERVIEW HANNES KOCH

taz: In Deutschland nimmt die soziale und ökonomische Sicherheit ab. Mit der Drohung, Arbeitsplätze ins Ausland zu verlagern, setzen Unternehmen Verlängerungen der Arbeitszeit und Lohnsenkungen durch. Werden sich die hohen Sozialstandards in den reichen Staaten den niedrigen der armen Länder zunehmend angleichen?

Juan Somavia: Das Kernproblem besteht darin, dass das weltweite Wirtschaftswachstum zu gering ausfällt. Die wegrationalisierten Stellen können daher nicht ersetzt werden, die Zahl der Erwerbslosen und der arbeitenden Armen steigt. Diese beiden Gruppen umfassen etwa eine Milliarde Menschen auf der Welt. Deshalb steigt der Druck auf den regulären Arbeitsmarkt. Wir bräuchten also ein höheres, nachhaltiges Wachstum, flankiert von aktiver Arbeitsmarktpolitik. Daran muss die Politik künftig noch intensiver arbeiten.

Die Welthandelsorganisation WTO versucht, das Problem des geringen Wachstums mit Liberalisierung und Deregulierung anzugehen. Ist das der richtige Weg?

Alleine nicht. Wir brauchen eine Kombination. Natürlich ist es wichtig, die Märkte zu öffnen. Aber das muss auf faire Art geschehen. Heute wirken sich die Regeln im weltweiten Handelsverkehr oft zu Lasten der Entwicklungsländer aus. Beispiel Baumwolle: Dort gab und gibt es viele Behinderungen, die afrikanischen Produzenten den Zugang zu den Märkten der Industrieländer erschweren.

Halten Sie es für richtig, dass ärmere Länder ihre Märkte einseitig abschotten, um schädliche Importe aus den Industriestaaten des Nordens abzuwehren?

Ja, zumindest für eine Übergangszeit. Natürlich sind offene Gesellschaften besser als geschlossene. Das heißt aber nicht, dass afrikanische oder asiatische Volkswirtschaften sich auf einen Schlag dem Weltmarkt öffnen, der sie möglicherweise überfordert. Heute sind die Machtverhältnisse doch so: Kleine Firmen mit 70 Leuten aus Entwicklungsländern konkurrieren mit transnationalen Konzernen. Und da kann es durchaus richtig sein, die Kleinen vor den Großen zu schützen, bis Erstere überhaupt wettbewerbsfähig sind. Heute sind die Regeln oft für die Starken gemacht.

Diese Argumente der ILO werden gerne überhört. Wann wird die Welthandelsorganisation WTO bereit sein, mit Ihnen auf gleicher Augenhöhe zu verhandeln?

Die WTO schwebt nicht in der Luft. In ihr wirken die nationalen Regierungen zusammen, die ein Interesse an sozialen Standards und Wachstum haben sollten. Diese Regierungen müssen sich bewegen, wenn wir zu einer gerechten Globalisierung kommen wollen. Und das werden sie auch, denn die Entwicklung wird zunehmend sie selbst betreffen, und nicht nur die armen Länder. Das sehen Sie an der Auseinandersetzungen bei Opel und General Motors. Deutschland könnte bei der Gestaltung der Globalisierung eine Führungsrolle übernehmen.

Was sollte die deutsche Regierung denn zu diesem Zweck tun?

Sie könnte ihren Einfluss zur Geltung bringen, nicht nur bei der WTO, sondern auch beim Internationalen Währungsfonds und der Industrieländer-Gruppe G 8, um mehr Wachstum und fairere Bedingungen für den Welthandel zu erreichen. Diese Rolle könnte Deutschland mit großer Überzeugung spielen. Ihr Land ist ja ein gutes Beispiel für ein stabiles System mit Dialog zwischen den Interessengruppen. Die soziale Marktwirtschaft kommt meiner Vision für die Weltökonomie schon ziemlich nahe.