Zwischen zwei Toden

Das von einer Dioxinvergiftung stigmatisierte Gesicht des ukrainischen Oppositionsführers Wiktor Juschtschenko ist ein doppeltes Symbol: Es ist ein Sinnbild für die politischen Verhältnisse und zeigt ihr „wahres Gesicht“. Es ist aber auch das Bild des Kampfes, der die Verhältnisse verändern soll

Wiktor Juschtschenko ist kein passives Opfer. Er ist ein aktiver Märtyrer

VON ISOLDE CHARIM

Wir alle sind berührt von der wundersamen „Revolution in Orange“. Allerorts preist man die orangefarbenen Massen. Worüber aber keiner laut spricht ist der Schrecken, den das Gesicht ihres Anführers auslöst. Seit letzter Woche hat dieser Schrecken – dank der Beherztheit österreichischer Ärzte – einen offiziellen Namen: Dioxin.

Das Szenario ist wie bei den Borgias. Das war jenes mächtige Adelsgeschlecht, das im Italien des 15. und 16. Jahrhunderts bekannt dafür war, sich seiner Gegner durch raffinierte Giftmischungen zu entledigen. Berühmt ist auch das wichtigste Requisit der Borgias – der Giftring, dessen Öffnung unauffällig zu betätigen war. Trug der Chef des ukrainischen Geheimdienstes ein ebensolches Stück? Oder wurde die Suppe bereits in der Küche „angerichtet“? Seitdem erscheint das Gesicht des Wiktor Juschtschenko immer in einer doppelten Version: in einer „Vorher“-, und in einer „Nachher“-Variante. Man braucht es nicht zu beschreiben, dieses entstellte Gesicht. Es geistert täglich durch die Medien. Im wahrsten Sinne des Wortes: Wiktor Juschtschenko ist dem Tode entronnen. Kann man danach einfach zu den Lebenden zurückkehren? Lacan nannte das, „zwischen zwei Toden“ stehen. Juschtschenko ist zurückgekehrt – aber als Phantom seiner selbst: mit einem Gesicht, das die Spuren des Todes trägt. Er ist gezeichnet.

Diese Stigmatisierung macht ihn, macht sein Gesicht zu einem Symbol – in zweifacher Hinsicht. Zum einen wird es zum Sinnbild der politischen Verhältnisse: Es ist deren „wahres Gesicht“. Die verborgene Wahrheit, der blinde Fleck des Regimes, jenes überschüssige Element, welches das System nicht integrieren kann – hier wird es auf entsetzliche Weise sichtbar. In Verhältnissen, in denen Demokratie nur das Schauspiel ist, das fingiert werden muss, um ihr Gegenteil aufrechtzuerhalten – in solch neofeudalen Diktaturen werden die Verhältnisse im zerstörten Gesicht der Opposition zur Kenntlichkeit entstellt.

Zum Symbol wird das Gesicht paradoxerweise aber auch, weil es lebt: Es wird zum Bild des Kampfes, der die Verhältnisse weitertreibt, der sie verändern soll. In einem christlichen Land wie der Ukraine erscheint den Leuten der Schrecken dieses Gesichts wie eine frohe Botschaft: Es hat das Leid auf sich genommen, vielleicht nicht der ganzen Welt, wie Jesus Christus, aber das Leid der Ukraine. Wiktor Juschtschenko ist kein passives Opfer. Er ist ein aktiver Märtyrer. Deshalb gibt sein zerstörtes Gesicht Hoffnung, deshalb ist es zum Inbegriff des Aufbruchs geworden. Aber man muss verstehen: Das ist das Gesicht des Neubeginns. Dieser bleibt gezeichnet von dem, was er überwinden will. Dieses Gesicht zeigt, welche Erbschaft die Zukunft mitschleppen muss.

Sollte diese Wende glücken, dann stelle man sich dieses Gesicht im Rahmen eines zukünftigen EU-Gipfels vor. Lauter soignierte Herren, vielleicht die eine oder andere gepflegte Dame dazwischen – und mitten drin dieses Antlitz, fratzenhaft, entstellt, dem all das eingeschrieben ist, was die EU ausschließen möchte. Eine lebende Metapher ihres Traumas.

Denn Europa definiert sich über eine Grenze – jene zwischen Zivilisation und Barbarei. Slavoj Žižek hat gezeigt, wie sich dies imaginäre Trennlinie je nach Perspektive verschiebt: Für die Deutschen beginnt der Balkan in Österreich, für die Österreicher in Slowenien, für die Slowenen in Serbien und so weiter.

Diese Grenze hat nun einen neuen Ort: Sie verläuft an diesem Mann, der selbst die Zivilisation verkörpert, der aber das Gesicht der Barbarei trägt. Nicht seiner eigenen, sondern jener der anderen: das Gesicht, das ihm die Barbarei zugefügt hat. Er trägt das Kainsmal seiner Feinde. Und er trägt es wie ein Fanal: In diesem Gesicht bleibt die Barbarei sichtbar. Ob es je wieder heilen wird? Die Ärzte schweigen dazu. Das liegt jenseits ihres Ressorts.